Flesh Gothic (German Edition)
des Hauses abrufen konnte. Das kam Westmore durchaus entgegen, denn er konnte sich unmöglich vorstellen, sich an diesem riesigen, düsteren Ort nicht zu verlaufen.
Danach schoben sie die Tür zum Südatrium auf, einem weitläufigen Saal, den eine eigenartige Helligkeit erfüllte und in dem grässliche grüne Velourstapeten die Wände bedeckten. Er betrachtete die Struktur des Raums, die Stuckarbeiten, die geschnitzten Profilleisten und Täfelungen, die an Turmspitzen erinnernden mittelalterlichen Bücherschränke und dachte: Ja, für diesen Ort passt die Bezeichnung ›gotisch‹ wie die Faust aufs Auge . Dann begutachtete er mit zusammengekniffenen Augen die Bürotrennwände, die fehl am Platz wirkten und die die gewaltige Fläche unterteilten. Und er bemerkte eine weitere Absonderlichkeit: Eine unscheinbare, aber keineswegs unattraktive Frau lag schlafend auf einer antiken Couch vor einem Fernseher, auf dem gerade die Sendung Emeril Live lief.
»Das ist Adrianne«, erklärte Mack und deutete auf die Schlafende. »Wie Sie sehen, ist sie gerade weggetreten. Sie macht gerne mal ein Nickerchen. Und das ist Nyvysk ...«
Ein großer Mann mit Bart und längeren Haaren als Westmore war soeben hinter einer der Trennwände aufgetaucht und kam mit einem zerstreuten Lächeln auf sie zu. »Sie müssen der Schriftsteller sein«, vermutete er und schüttelte Westmore die Hand. »Ich bin Nyvysk, der Techniker der Gruppe.«
Der Mann stellte Westmore buchstäblich in den Schatten. »Westmore. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Scheint ganz in Ordnung zu sein, dachte er.
»Nyvysk ist außerdem Dämonologe«, erklärte Karen.
Westmore wollte gerade über den Scherz lachen, doch am Blick des Hünen erkannte er, dass es sich offenbar nicht um einen Scherz handelte.
»Wow, das ist heftig.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Nyvysk, dessen Lächeln mit einem Schlag geheimnisvolle Züge angenommen hatte. »Sie sind Journalist und daher Atheist. Sie glauben nicht an Dämonen.«
Da musste Westmore wirklich lachen. »Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung, was ich darauf antworten soll.«
»Gut. Vielleicht finden Sie die Antworten während Ihres Aufenthalts hier. Wie ich sehe, haben Sie einige Dinge mitgebracht. Sind Sie bereit, in Ihr Schlafzimmer einzuchecken?«
»Klar«, erwiderte Westmore. Er wollte sich wieder der Tür zuwenden, weil er davon ausging, die Schlafzimmer würden sich oben befinden, aber Nyvysk hielt ihn weiterhin lächelnd davon ab. »Gleich hier drüben.«
Er führte Westmore zu einer der behelfsmäßigen Parzellen. »Sieht wie mein Büro bei der Times aus«, stellte der Journalist fest. »Das ist das Schlafzimmer? «
»Wir haben beschlossen, alle hier unten im Atrium zu bleiben. Als Gruppe sind wir sicherer.«
Westmore spähte am Vorhang seines »Zimmers« vorbei. Ein Bett und ein Spind. Er ließ seine Taschen auf den Boden gleiten. Seufzend stellte er sich ein prunkvolles gotisches Schlafzimmer mit Himmelbett, dicken Teppichen und Vorhängen vor, die vor offenen Verandatüren wehten. »Dann muss das hier wohl reichen.«
»Ladungen ändern sich nachts«, erklärte ihm Nyvysk. »Besonders in einem Haus voller Menschen, die Ladungen anziehen . Externe Kräfte werden viel eher aktiv, wenn solche Menschen getrennt voneinander und in ihrem verwundbarsten Zustand sind: im Schlaf.«
Westmore hatte keine Ahnung, wovon Nyvysk sprach. »Ladungen?«
»Sind Sie schon einmal an einem geladenen Ort gewesen?«
Westmore kam aus dem Abteil zurück. »Na ja, früher hatte ich selbst an manchen Orten viel geladen, vor allem in Bars und Kneipen, aber davon abgesehen weiß ich wirklich nicht, wovon Sie gerade reden.«
»Manche Orte besitzen eine Ladung , Mr. Westmore. Eine positive, eine negative, eine geerdete ... oder eine andere. Wir glauben, dass es sich bei der Hildreth-Villa um einen solchen Ort handeln könnte.«
»Eigentlich, Nyvysk, glauben wir nicht unbedingt etwas in der Richtung.« Der Einwand kam von der Frau auf der Couch – Adrianne –, die soeben aus ihrem Schlaf erwacht war. Sie stellte sich Westmore mit einem verhaltenen Lächeln und einem Nicken vor, ehe sie ihren Einspruch weiter ausführte. »Wir wissen noch gar nichts über dieses Haus und haben keine Schlussfolgerungen gezogen. Führ den Mann nicht von Anfang an in die Irre.« Sie sah Westmore an und stellte dann auf äußerst merkwürdige Weise die Frage: »Sie sind also kein Christ?«
»Ich habe nie gesagt, dass ich Atheist bin«, gab Westmore
Weitere Kostenlose Bücher