Flieg, Hitler, flieg!: Roman
könnte: etwa eine hübsche angelsächsische Blondine am Arm eines warzenübersäten, krötenhaften Semiten. Doch bevor Erskine etwas dieser Art entdeckt hatte, war es Zeit für Roach gegen Pock.
Zum ersten Mal war Erskine in der Zeitschrift Boxing auf Seth »Sinner« Roach gestoßen; sie hatte im Aufenthaltsraum seines Clubs herumgelegen. Als er die Angaben über Sinner las und sein Bild betrachtete, waren Erskine schlagartig zwei Erkenntnisse gekommen. Die erste war die Tatsache gewesen, dass aus einem dermaßen jämmerlichen körperlichen Erbe ein solch hervorragendes sportliches Können entstehen konnte – wie ein Pfirsichbaum, der auf einem Seuchengrab wächst. Zwar waren jüdische Boxer dieser Tage keine Seltenheit; wie aber verhielt es sich mit einem merkwürdigen, einen Meter fünfzig großen jüdischen Boxer mit neun Zehen, der gut genug war, um Weltmeister zu werden? Die zweite Erkenntnis war irritierend und unbestimmt – wie das Gefühl, dass man etwas vergessen hat, ohne zu wissen, was. Nur hatte Erskine keine Zeit, dem auf den Grund zu gehen, denn der Fall des Seth Roach hatte die eine oder andere ketzerische Idee in ihm reifen lassen, die er über die angewandte Eugenik zu entwickeln begonnen hatte, und bald kam er zu dem Schluss, dass eine genaue Beobachtung Sinners der beste Weg wäre, sie zu überprüfen. Er abonnierte Boxing , und als einer von Sinners Kämpfen mit einem seiner Besuche in London zusammenfiel, war er fest entschlossen, hinzugehen.
Der Kampf war aufregend. Die Kontrahenten glühten wie mittelalterliche Heilige. Anders als viele Sportler, die er gesehen hatte, schien Sinner keine Befriedigung aus seiner Schnelligkeit, Anmut und Kraft zu ziehen – sie waren zu sehr Teil seiner selbst. Er war vielmehr wie ein Fuchs oder Hirsch, ein Lebewesen, das umso schöner ist, weil es nicht wissen kann, dass es schön ist. Ein mutiges Lebewesen, das davon ausgeht, dass die Welt aufhört zu existieren, wenn es schläft. Hitler hatte gesagt, die deutschen Jungen der Zukunft müssten »schlank und rank, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl« sein. Sinner war all das. Hitler hatte nichts von »groß« gesagt.
Und als sie sich bitter bekämpften, hatten diese fast nackten Männer etwas so Intimes, dass Erskine sich am liebsten beschämt abwenden wollte, aber er war zu fasziniert davon. Bald schienen sich die Jubelrufe der Menge zu entfernen, und er hörte nur noch das Klatschen von Fäusten auf Gesichter, wie Fleisch, das auf die Ladentheke eines Metzgers geworfen wird.
Dann war es vorbei. Wie alle anderen war Erskine enttäuscht von der unglaublichen Feigheit Pocks, der mittlerweile durchnässt war und blinzelte wie jemand, dem es nicht gelungen war, seinen Hund vor dem Ertrinken zu retten. Während des folgenden Streits über das Foul erinnerte sich Erskine daran, dass ein Kampf wie dieser nach den Regeln ausgetragen wurde, die der Marquess of Queensberry entworfen hatte, und war das nicht Lord Alfred Douglas’ Vater gewesen, der von Oscar Wilde wegen Verleumdung verklagt worden war, weil er Wilde (nicht ganz korrekt) als »Somdomiten« bezeichnet hatte? Erskine war sich nicht ganz sicher, ob es sich um denselben Marquess of Queensberry handelte. Als Sinner Pock aus dem Ring drosch, schrie Erskine vor Freude auf. Er hatte sich so sehr gewünscht, dass Sinner gewinnen würde.
Später machte er sich auf den Weg zur Garderobe und stand ein oder zwei Minuten vor der Tür, bevor er den Mut aufbrachte zu klopfen. Das Gespräch mit Sinner war kein Erfolg. »Ich habe jetzt genug von Käfern«, hatte er zu dem Jungen gesagt. »Ich möchte Menschen studieren.« Das stimmte nicht ganz. Ob Sinner nun seiner Bitte entsprach oder nicht – Erskine wusste, dass er sich vermutlich für den Rest seines Lebens würde mit Käfern befassen müssen. Zum einen wäre sein Vater, der seine Studien finanzierte, vermutlich nicht mit einem plötzlichen Wechsel von der Insektenkunde zur Anthropobiologie einverstanden. Aber wichtiger noch, einige seiner geplanten eugenischen Experimente würden Hunderte von Stammbäumen über Hunderte von Generationen erfordern. Das war schon bei Insekten ein ehrgeiziges Vorhaben – bei Menschen war es vermutlich unmöglich, es sei denn, man verfügte über eine ganze Dynastie von Wissenschaftlern, die unter einer ganzen Dynastie von Despoten arbeiteten. In einer wahrhaft aufgeklärten Gesellschaft würden die beiden Gruppen natürlich bald eins werden:
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