Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
Vom Netzwerk:
Wissenschaftler würden zu Despoten werden und Despoten zu Wissenschaftlern. Käfer hatten den Vorteil, dass sie es einem einfach machten, beides zu sein. Vor Kurzem hatte er ein Buch mit dem Titel If I Were A Dictator gelesen. Der Autor war Julian Huxley, den er einmal auf einer Cocktailparty kennengelernt hatte. Huxley wollte die Bürgersteige in belebten Einkaufsstraßen durch bewegliche pneumatische Platten ersetzen und plädierte dafür, dass in der Schule Sexualkunde unterrichtet werden sollte, doch er machte auch vernünftigere Anregungen. »Der echte Brite ist stolz auf seinen Widerwillen, zum ›Versuchskaninchen‹ der Regierung zu werden«, schrieb er. »Tatsächlich ist diese Haltung das Ergebnis einer irrationalen und argwöhnischen Dummheit seinerseits und unwissenschaftlicher und ungeplanter Aktionen seitens des Staates; es sollte und könnte eine Atmosphäre geschaffen werden, in der es als Auszeichnung angesehen würde, ausgewählt zu werden und als Versuchsobjekt bei der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse für den sozialen Fortschritt von Nutzen zu sein.«
    Eine solche Atmosphäre fehlte jedoch in Sinners Garderobe gänzlich, und Erskine war den Tränen nahe, als er das Premierland verließ. Er musste die Commercial Road lange hinuntertrotten und wurde immer wieder von Passanten angerempelt, bevor er ein Taxi finden konnte. Er wollte den Fahrer nicht bitten, ihn direkt zum Caravan zu bringen, deshalb stieg er am nördlichen Ende der Endell Street aus und irrte fast zwanzig Minuten lang hin und her, bevor er entdeckte, dass der Club sich in einem Souterrain versteckte. Genau wie vor Sinners Garderobe blieb er zunächst oben an den Stufen stehen, um sich ein Herz zu fassen, und stieg dann erst hinab. Und wie in einem Traum kam in diesem Augenblick Sinner durch die Tür.
    »Was zum Teufel willst du denn hier?«, sagte der Boxer. »Du bist mir gefolgt.«
    Einen wahnhaften Moment lang hatte Erskine tatsächlich das Gegenteil geglaubt – dass Sinner Erskine nach Covent Garden gefolgt war, um ihm mitzuteilen, dass er es sich anders überlegt hätte. Aber das ergab keinen Sinn. »Was?«, sagte er und bemerkte, dass Sinner in Begleitung eines Jungen war. Ein Boxerkollege?
    »Du bist mir hierher gefolgt. Wahrscheinlich willst du mich entführen. Du schnöselige Drecksau!«
    Wie sollte Erskine sein Verhalten erklären? Er war sich ziemlich sicher, dass Sinner noch nie etwas von Pitt-Rivers’ Evolutionärem Bewusstsein gehört hatte. Auch sah es so aus, als würde er vielleicht einen Schlag abkriegen, wenn er zu diskutieren versuchte. Also sagte er: »Das stimmt. Ich bin Ihnen hierher gefolgt. Es tut mir leid.« Und wurde trotzdem geschlagen.
    Es war erstaunlich schwierig gewesen, den Jungen anzulügen: Vor seinen Augen schien man nackt dazustehen. Er erinnerte sich, dass Boxer scharfe empirische Beobachter menschlichen Verhaltens sein müssen, um stets den nächsten Schritt ihres Gegners vorhersagen zu können. Erskine betrachtete sich selbst gern als scharfen empirischen Beobachter menschlichen Verhaltens, aber wie Algebra war es für ihn in Wahrheit ein eher verwirrendes Gebiet.
    Ein oder zwei Leute lachten ihn aus, als er die Endell Street hinuntereilte. Plötzlich war ihm unglaublich heiß in der Panzerung des väterlichen Mantels. Er überquerte die Long Acre, verlangsamte sein Tempo und ging in ein Pub in der Bow Street nahe dem Royal Opera House, um einen Brandy zu trinken. Er wollte noch nicht in seinen Club zurückkehren. Von der Bar aus konnte er aus dem Fenster schauen, und zu seiner Überraschung sah er eine Minute später Sinner und den anderen Jungen vorbeikommen. Sogar Sinner beim Laufen zu beobachten, war faszinierend: Sein hüpfender Gang hatte etwas Prahlerisches, als stehe er immer noch im Ring. Erskine leerte sein Glas auf einen Zug.
    Draußen folgte er den beiden in sicherer Entfernung. Sie liefen den Strand ein ganzes Stück hinunter, dann bogen sie nach links in das Gewirr kurzer Straßen neben der Charing Cross Station ein, und hier mussten sie ihn sehen, wenn sie sich zufällig umdrehten. Aber das tat keiner von beiden, und er sah, dass Sinner den Jungen ins Hotel de Paris führte. In dieser relativ schönen Straße wirkte das schmale Gebäude wie ein heruntergekommener Eindringling mit braunen Zähnen. Erskine stand zehn Minuten an der Ecke, rauchte eine Zigarette und resümierte im Geiste, was er über Perverse wusste, sollte er vorgeben müssen, selbst einer zu sein; dann

Weitere Kostenlose Bücher