Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
Vom Netzwerk:
ging er hinein. Ein fetter Mann in Hosenträgern saß hinter einem Empfangstisch, las einen billigen Krimi und atmete schwer. Erskine erkundigte sich nach einem Einzelzimmer für die Nacht und erhielt einen Schlüssel, nachdem er zehn Shilling bezahlt hatte.
    »Erwarten Sie später noch Besucher?«, fragte der Mann.
    »Mit Sicherheit nicht.«
    Erskine sah sich nicht einmal die Zimmernummer auf dem Schlüssel an, sondern wanderte durch die schäbigen Korridore des Hotel de Paris, fragte sich, in welchem Zimmer Sinner war, hörte aber nichts als das Knarzen seiner eigenen Schritte und das dumpfe Bauchgrimmen der Heißwasserrohre. (Was machte er hier?) Als er durch alle drei Stockwerke gelaufen war, wählte er willkürlich ein Zimmer aus – Nummer 39 –, kniete sich hin und hielt das Ohr an die Tür. Er hörte Ächzen und Stöhnen. Konnten das Sinner und der Junge sein, fragte er sich mit einem hohlen Gefühl im Bauch. Aber als er es bei Nummer 38 versuchte, hörte er dasselbe, in Nummer 37 herrschte Stille, und aus Nummer 36 kam wieder Stöhnen.
    »Was in aller Welt machst du da?«
    Erskine sah hoch. Ein Mann, der Lidschatten, Rouge und kein Hemd trug, kam aus der Etagentoilette. Er hatte seine Hände auf die Hüften gelegt und sprach mit einer schrillen, theatralischen Stimme, die Erskine Übelkeit verursachte.
    »Nichts«, erwiderte Erskine und stand auf.
    »Ich bin in ungefähr einer Stunde frei, wenn du Lust auf ein bisschen –«
    »Nein!«, rief Erskine, und er floh ein weiteres Mal.
    In dieser Nacht träumte er, gefesselt von den Laken im United Universities Club, von zwei Kaninchen, einem weißen und einem schwarzen, die angeschnallt und aufgeschnitten auf einem Operationstisch lagen, während das Blut aus der Halsschlagader des einen in das Herz des anderen geleitet wurde und umgekehrt. Als er erwachte und Blut hervorwürgte, das nicht da war, spekulierte er über die Symbolik des Traums – er hatte neben Marx auch Freud gelesen –, bis ihm einfiel, dass das Traumbild kein Produkt seines Unterbewusstseins war, sondern vielmehr ein echtes Experiment, das 1870 von dem großen Francis Galton, dem Schöpfer des Wortes »Eugenik«, durchgeführt worden war, um die pangenetische Vererbungstheorie seines Cousins Charles Darwin zu widerlegen. »Es war erstaunlich zu sehen, wie schnell die Kaninchen sich erholten, nachdem die Wirkung der Betäubungsmittel nachgelassen hatte«, schrieb Galton. »Oft wurden ihre Lebensgeister und sexuellen Fähigkeiten in keiner Weise durch eine Operation beeinträchtigt, bei der nur wenige Minuten zuvor nahezu die Hälfte des Blutes in ihren Körpern ausgetauscht worden war.«
    Erskine stand auf und nahm ein langes Bad.

VIERTES KAPITEL
    Nur sechs- oder siebenhundert Menschen auf der Welt haben Trimethylaminurie. Wegen eines Druckfehlers in unseren Genen sind unsere Körper nicht in der Lage, Trimethylamin aufzuspalten, die chemische Substanz, die den Gestank sowohl bei verfaulendem Fisch als auch bei bakteriellen Infektionen der Vagina verursacht. (Daher all die lahmen Witze über einen Blinden, der auf den Fischmarkt kommt und glaubt, er ist in einem Bordell, und umgekehrt; sie könnten genausogut über einen Blinden gemacht werden, der in eine Versammlung von Menschen gerät, die an Trimethylaminurie leiden. Sollte allerdings eine solche Zusammenkunft jemals stattfinden, würde sie zweifellos als terroristische Vereinigung mit biologischen Waffen eingestuft werden, und man würde umgehend Kampfflugzeuge losschicken.) Trimethylamin wird über unseren Schweiß, Urin und Speichel abgesondert und bringt die Luft in unserer Umgebung zum Stocken. Es gibt keine Heilung. Die meisten von uns werden nie jemanden finden, der aus freien Stücken Sex mit ihnen hat, und viele begehen Selbstmord, bevor sie dreißig sind. Früher habe ich viel Zeit in den Internetforen von Trimethylaminurie-Selbsthilfegruppen verbracht, was der oben erwähnten Versammlung in der Realität am nächsten kommt, aber mir war der Ton zu depressiv, jedenfalls im Vergleich zu den Internetforen der Sammler von Nazi-Memorabilien, die vom Geist gemeinsamer Anstrengung und freundlicher Konkurrenz belebt sind.
    Neben Trimethylaminurie habe ich auch noch Asthma, Ausschlag, zystische Akne, leichtes Reizdarmsyndrom und ein halbes Dutzend anderer absurder, aber nicht tödlicher Krankheiten. Inzwischen betrachte ich meinen Körper wie den Benjy bei Faulkner: als eine Art schwachsinnigen, stöhnenden und wimmernden

Weitere Kostenlose Bücher