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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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»Wir können es nicht dem vielgerühmten ›freien Markt‹ überlassen.«
    »Nein«, sagte Pearl. »Bürgermeister LaGuardia und ich sind uns in diesem Punkt völlig einig.«
    »Das Empire State Building ist so leer, dass sie einen Studenten dafür bezahlen, jeden Tag herumzulaufen und alle Toiletten zu spülen, damit das Porzellan nicht fleckig wird«, sagte Siedelman, »und gleichzeitig gibt es in Arkansas Familien, die in Höhlen leben und Unkraut essen. Das hat man davon, wenn man sein Vertrauen in den freien Markt setzt. Bald wird es hier so sein wie in Deutschland. Nachdem sie den Krieg verloren hatten, hatten sie die Inflation, die Projekte für den schnellen Reichtum, die Gelder aus Amerika, und dann kam der Crash … Meine Freunde in Deutschland schreiben in ihren Briefen, dass sich die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu ändern beginnt. Geld ist Lüge, reine Fantasie, und deshalb scheint es, als wäre alles andere auch unwirklich. Man kann dort ein Vermögen verdienen, indem man Wunderzahnpasta an Aristokraten und Generäle verkauft. Alles, was solide ist. Nichts für ungut übrigens, Balfour.«
    »Kein Problem«, sagte Pearl. »Mein Großvater hat mit seiner Zahnpastarezeptur keinen Anspruch auf Wundertätigkeit erhoben.«
    »Also ist es Ihrer Meinung nach die Aufgabe des Rathauses, die Dinge in Ordnung zu bringen?«, meinte Kölmel.
    »Ganz und gar nicht«, gab Pearl zurück.
    Siedelman schaute verwundert. »Ich verstehe nicht, Mr.   Pearl. Ich dachte, wir stimmen überein. Wenn es nicht die Wirtschaft ist, dann …«
    »Wirkliche Veränderung«, erklärte Pearl, »ob groß oder klein, ist die Verantwortung des starken Individuums. Sicher nicht der Regierung. Und sicher nicht des Marktes.«
    »Der Markt kennt keine Moral«, kommentierte Siedelman.
    »Nein, das tut er nicht«, sagte Berg. »Er kennt überhaupt keine Werte. Und ich muss sagen, bevor Hitler, dieses starke Individuum, auf der Bildfläche erschien, habe ich immer gedacht, dass eine Tyrannei der Werte immerhin besser wäre als eine Tyrannei der Nichtwerte. Aber heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.«
    »Wenn Sie gesehen haben, was wir bewirken können, überdenken Sie Ihre Einstellung vielleicht, Rabbi«, sagte Pearl. »Natürlich ist die Lower East Side erst der Anfang. Ich habe die Juden in New York gesehen, und ich habe die Juden in London gesehen, und ich weiß nicht, wer es schlechter hat. Talentierte Jungs wie Seth sollten nicht im Elend aufwachsen müssen.«
    »Mir gefällt’s da, wo ich leb«, stellte Sinner fest.
    Alle drehten sich zu ihm um. Er machte sich in seinem Sessel so breit, dass es, obwohl er der Kleinste im Zimmer war, wie üblich schien, als würde er den meisten Raum einnehmen.
    Pearl lächelte spitz. »Das sollte keine Beleidigung sein.«
    »Seth ist nicht beleidigt«, sagte Frink.
    »Stoßen Sie den Jungen nicht vor den Kopf, Balfour«, sagte Berg. »Was genau ist denn an Slums zu beanstanden?«
    »Sie sind beengt, kriminell, schmutzig und krankhaft«, antwortete Pearl. »Voller Weißer und Neger und Puertorikaner, alles vermischt.«
    »Nichts gegen die Neger«, warf Kölmel ein. »Sie sind die Einzigen in New York, die sich nicht zu schade sind, zuzugeben, dass sie das Boxen mögen.«
    »Diese Orte sind unvernünftig und unmenschlich«, sagte Pearl. »Es fehlt ihnen an Raum, Licht und Ordnung. Und das sind Dinge, die Menschen genauso brauchen wie Brot oder einen Platz zum Schlafen.«
    »Wo sind Sie aufgewachsen, Mr.   Pearl?«, fragte Frink.
    »In der East 46th Street. Unweit der Grand Central Station.«
    »Sie haben nie in einem Slum gelebt«, sagte Berg.
    »Nein. Aber ich habe auch nie in einer Opiumhöhle oder in einem Hurenhaus gelebt, und trotzdem weiß ich genug darüber, um meiner Stadt beides nicht an den Hals zu wünschen.«
    »Der Arsch hasst uns, Frink«, sagte Sinner.
    Siedelman zuckte zusammen.
    »Halt deinen verdammten Mund, Junge«, versetzte Frink schnell.
    »Hat er so gut wie gesagt«, sagte Sinner und funkelte Pearl über den Tisch hinweg wütend an.
    »Tut mir leid wegen dem Jungen, Mr.   Pearl«, entschuldigte sich Kölmel.
    »Keine Ursache«, sagte Pearl und funkelte wütend zurück.
    »Aber in einem hat Seth schon recht, auf seine Art«, meinte Berg. »Dass Sie die armen Slumbewohner retten wollen, haben wir verstanden. Es ist nur nicht immer ganz einfach, die Verachtung für die Straßen, in denen ein Mann geboren wurde, von der Verachtung für den Mann selbst zu trennen. Sie kennen

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