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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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rief Rabbi Berg an, überredete ihn, keinen Wein zum Essen zu servieren, und schaffte damit in zehn Minuten, was der Prohibition in dreizehn Jahren nicht gelungen war.
    Draußen auf der Straße schien der spätnachmittägliche Sonnenschein wie Tau aus den Ritzen der Pflastersteine aufzusteigen. Sinner und Frink nahmen ein Taxi zu ihrer Herberge neben der alten Białystoker Synagoge in der Lower East Side. Kölmel kannte den Besitzer, und Sinner hatte ein Zimmer mit vergitterten Fenstern und einem ordentlichen Schloss an der Tür bekommen. Sinner trank ein Dr.   Pepper – das er noch nie probiert hatte und das ihm geradezu beunruhigend gut schmeckte –, blätterte einen Boxer-Comic namens The Abysmal Brute durch – der seinem Titel zum Trotz Boxen als fast so unblutig wie Cricket erscheinen ließ – und zog einen Anzug an, den sie von einem mit Kölmel befreundeten Schneider geliehen hatten – und der nicht nur zu eng, sondern auch zu lang war. Dann gingen die beiden Engländer zu Fuß zu Rabbi Bergs Haus in der Cherry Street.
    Frink musste sich eingestehen, dass er Schuldgefühle hatte, weil er Sinner auf diese Weise behandelte, ihn wie einen auf Bewährung Verurteilten durch die Gegend schleppte und ihm keinen einzigen unbewachten Moment gönnte, um diese außergewöhnliche Stadt zu genießen. Als Frink im Krieg »für England« gekämpft hatte, hatte er in Wirklichkeit für London gekämpft, und trotzdem musste er zugeben, dass New York eine noch großartigere Stadt zu sein schien. Und die enthielt er Sinner vor, der nur einmal im Leben siebzehn sein würde.
    Doch um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, musste er nur daran denken, wie oft der Junge betrunken bei Preiskämpfen aufgetaucht war, sich beim Training übergeben hatte oder tagelang komplett verschwunden war – von den närrischeren Episoden ganz zu schweigen, wie das eine Mal, als er ein Polizeipferd gestohlen hatte. Frink hatte gewusst, dass Sinner dieses Chaos in sich trug, seit sie sich zum ersten Mal getroffen hatten, aber es war schlimmer und schlimmer geworden. Und sosehr Frink Sinner geholfen hatte, mit seiner Geraden, seinen verschorften Wunden, seinen Abendessen und seinen Schulden, so wenig konnte er ihm hierbei helfen. Er wünschte es sich verzweifelt, aber er konnte es nicht. Frink wusste, was es hieß, die Traurigkeit durch Trinken auf Abstand halten zu wollen, und er kannte die Traurigkeit, die Sinner in sich hatte, oder zumindest einen Teil davon. Aber er hatte oft das Gefühl, dass Sinner nicht trank, weil er traurig war, sondern weil er das Betrunkensein betrachtete, wie er fast alles betrachtete: als ein Gelände, das es zu erobern, einen Gegner, den es herauszufordern, einen Liebhaber, den es zu verzehren galt. Nicht beißen und nicht an den Haaren ziehen: Das wurde vor jedem Kampf wiederholt wie ein strenges Gebet. Doch beißen und an den Haaren ziehen waren nur Mittel, sich ein Stück von etwas zu greifen, das einem nicht gehörte. Und wenn er konnte, wenn niemand ihn stoppte, dann würde Sinner beißen und ziehen, bis keine Welt mehr übrig war. Oder bis nichts mehr von ihm selbst übrig war als Zähne und Finger. Oder bis gar nichts mehr von ihm übrig war. Und deswegen musste er wie ein Gefangener leben, so schlecht sich Frink dabei auch fühlte.
    Doch während sie an einem Schaufenster vorbeikamen, das »Mosha 100   % reine Pumpernickel« anpries und gerade beinahe von einem kleinen Jungen, der eine Blechbüchse vor sich herkickte, zerstört wurde, schien sich das Umfeld für Sinner gar nicht besonders von Spitalfields zu unterscheiden. Nur dass New York einen sehr großzügigen Himmel besaß, den er nie vergessen würde. Und tatsächlich hatte Frink auch allen Grund, auf der Hut zu sein: Sinner wollte Gin oder was immer hier getrunken wurde, und irgendwie würde er schon welchen kriegen. Er drehte sich nach dem kleinen Jungen um und dachte daran, dass der Knabe bald seinen Namen kennen würde, so wie jeder in dieser Stadt.
    Rabbi Bergs Haus war überladen mit Gemälden, Nippes, kleinen Lampen und halb zerbrochenen Sachen. Er hieß sie mit den Worten »Wunderbar, wunderbar, wunderbar« willkommen. Sein ganzes Gesicht war von tiefen Falten und Fältchen durchzogen, als habe er sich in einem Garnelennetz verfangen. »Es ist eine große Freude, Sie kennenzulernen, Seth. Wer ist Ihr Rabbi in London? Rabbi Brasch? Unsere Wege haben sich nie gekreuzt. Kommen Sie, setzen Sie sich; ich kann nicht so lange stehen, und Mr  

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