Flieg, Hitler, flieg!: Roman
rütteln.
»Lass mich raus.«
»In ein paar Minuten.«
»Lass mich raus, oder ich schlag erst die Tür ein und dann dein Gesicht.«
»Drohen Sie mir nicht! Sie können mir nicht drohen! Denken Sie an Ihren Zustand!« Doch die ganze Tür bebte und quietschte in den Angeln. Wie konnte der Jungen nur in so kurzer Zeit so viel von seiner Stärke zurückerlangt haben? Konnte er wirklich die Tür aufbrechen? Dann hörte das Beben auf. Erskine genoss einen Moment des Triumphs.
»Wissen Sie, vielleicht ist es tatsächlich am besten, wenn Sie ein paar Stunden dort drinnen bleiben. Dann können Sie in Ruhe nachdenken, über Dankbarkeit, Respekt und –«
»Und deine wertvollen Käfer«, gab Sinner spöttisch durch die Tür zurück.
»Was?«
»Ich warte schon die ganze Zeit darauf, sie näher kennenzulernen. Ich glaube, sie beobachten mich, wenn ich für dich posiere.«
»Rühren Sie sie nicht an!«, kreischte Erskine. Er beeilte sich, das Schloss zu öffnen, doch im selben Moment, in dem sich der Schlüssel im Schloss gedreht hatte, flog die Tür auf, und er wurde auf den Rücken geworfen. Sinner stand über ihm, mit geballten Fäusten und gefletschten Zähnen. Dann hob der Junge einen nackten Fuß, bereit, Erskine ins Gesicht zu treten.
»Um Himmels willen, denken Sie daran, was ich für Sie getan habe«, wimmerte Erskine.
Der Junge ließ den Fuß auf die Bodendielen direkt neben Erskines Kopf niederkrachen, dann lachte er verächtlich und ging ohne Eile ins Gästezimmer. Einen Augenblick später stand Erskine auf, ging ins Labor zurück und sah sich nach eventuellen Schäden um. Es gab keine, nur sein Notizbuch lag geöffnet auf dem Tisch, und die Seiten waren verklebt. Der Junge ist ein Tier, dachte er. Er schloss die Tür hinter sich ab, ging wieder zum Tisch, beugte sich darüber und atmete mehrmals tief ein. Der Geruch des Notizbuchs blieb in seinem Kopf kleben wie Kerzenwachs auf nackter Haut. Er ging ins Wohnzimmer und verbrannte das Notizbuch im Kamin. Ihm war übel, und er fühlte sich auf unangenehme Weise lebendig.
Am nächsten Tag weigerte sich Sinner, sein Zimmer zu verlassen.
»Seth«, sagte Erskine durch die Tür. »Kommen Sie. Sie müssen doch Hunger haben.«
Es war das erste Mal, dass Erskine Sinner so genannt hatte, und tatsächlich war es auch das erste Mal seit Monaten, dass überhaupt jemand den Namen benutzt hatte. Es war ihm unangenehm.
»Geh und lass dir eine hölzerne Zunge wachsen.«
»Ist das ein jüdischer Ausdruck? Wie reizend. Was ich sagen möchte: Es tut mir leid, wenn Sie sich wegen gestern aufgeregt haben.«
»Aufgeregt? Ich bin nicht derjenige, der sich fast in die Hose gemacht hat.«
»Wie auch immer; vergessen wir es.«
»Was zum Teufel soll die ganze Scheiße überhaupt?«, erwiderte Sinner.
»Was?«
»Ich weiß, dass du irgendeinen Grund für das alles hast. Ich weiß, dass du deine verdammte Zauberwissenschaft hast.«
»In der Tat. Ich habe einige Theorien, die ich überprüfen möchte. Und Sie haben recht, Sie sollten ihre Rolle dabei verstehen. Wenn Sie herauskommen, kann ich es Ihnen vielleicht erklären.«
Sinner öffnete die Tür. Erskine ging in die Küche und goss sich einen Brandy ein und Sinner ein »Bier«, das in Wahrheit Welch’s Malt Tonic war, nahezu alkoholfrei und empfohlen für »Genesende, stillende Mütter und alle, die an Schlaflosigkeit und Verdauungsstörungen leiden«. Er hatte zwei Kästen bestellt, als ihm klar geworden war, dass Sinner in seinem gegenwärtigen Zustand den Unterschied sowieso nicht bemerken würde. Bis jetzt hatte der Junge noch nicht nach Gin oder Whiskey verlangt, und Erskine vermutete, dass Sinner sein eigenes Wohlergehen nicht so gleichgültig war, wie er tat.
Sie setzten sich ins Wohnzimmer.
»Wissen Sie irgendetwas über rassische Verbesserung?«, fragte Erskine.
Sinner antwortete nicht. Er ahnte, dass nun ein Vortrag folgen würde, der vermutlich länger war als der, den Pearl ihm in New York gehalten hatte; da war der gleiche Drang zur Selbstdarstellung, den er überall zu provozieren schien, wo er auftauchte. Sogar einige der reichen Schwuchteln, die er in den Wochen aufgegabelt hatte, bevor er ins St. Panteleimon’s gekommen war, hatten ihm als Vorspiel Monologe gehalten. Es war immer langweilig. Andererseits wollte er herausfinden, unter welchem Vorwand Erskine ihn hier festhielt. Er hatte dem Personal im St. Panteleimon’s gegenüber keine Dankbarkeit empfunden – sie taten nur, was sie taten,
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