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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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Tonleiter beruhte: do, re, mi, fa, so, la, si. An diesem Punkt wandte sich ihr Gespräch natürlich der Royal Society des siebzehnten Jahrhunderts zu, deren Mitglieder verrückt nach a priori konstruierten Sprachen gewesen waren, und Dodson, der Sekretär, brachte sogar Hildegard von Bingen ins Spiel, im zwölften Jahrhundert Äbtissin von Rupertsberg in der Diözese Mainz, die eine Sprache von neunhundert Wörtern erfunden hatte, um mit Engeln zu sprechen.
    Dann erschien Silkstone.
    Silkstone war ein fröhlicher, kräftiger Mann, dessen Lachen geeignet war, die Nähte einer Zwangsjacke platzen zu lassen. Er sprach ungefähr eine Stunde. Nach seiner Rede applaudierten alle außer Erskine. Der Forscher bedankte sich und ging. Und dann begann der Streit.
    Erskine meinte als Einziger, dass sie mehr Belege haben müssten, bevor sie den Artikel publizierten: Silkstones Geschichte war widersprüchlich, seine Skizzen ungenau, und er hatte von seiner Reise kein einziges antikes Artefakt mitgebracht, angeblich, weil sie alle zu zerbrechlich waren. Amersham, Gibbs und Dodson waren indessen überzeugt, dass Silkstones sensationelle Entdeckung der Zeitschrift Ultima Thule nur nützen könne und dass sie endlich ihren selbstgefälligen Rivalen ausstechen würden, das Journal of the British Ethnological Society . Alles andere als überzeugt, glaubte Erskine am Ende, nicht anders handeln zu können, als der Zeitschrift aus Protest sein Geld zu entziehen, was natürlich bedeutete, dass keine weitere Ausgabe erscheinen würde. Seit jenem Tag hatte er nie wieder mit Amersham oder Gibbs oder Dodson gesprochen, und drei Jahre lang hatte er fast jede Nacht wach gelegen und gegrübelt, ob Silkstone wohl doch die Wahrheit gesagt hatte. Die Tatsache, dass der Artikel über Kumari Kandam nicht im Journal of the British Ethnological Society erschienen war, konnte nur teilweise als Rechtfertigung für sein Handeln angesehen werden, da dessen Herausgeber notorisch engstirnig waren. War es möglich, dass er versehentlich die größte archäologische Enthüllung der Ära unterdrückt hatte? Thurlow hielt diesen Gedanken für lächerlich, aber Erskine wusste, dass er nie Gewissheit erhalten würde. Dazu kam, dass seine früheren Kollegen weiterhin sehr angesehen waren, während er selbst hier unten in Hampshire saß und von jedermann vergessen zu sein schien.
    Dieser Tage beschäftigte er sich zwar immer noch mit bestimmten Einzelheiten jener Sitzung, aber inzwischen kreisten seine Gedanken weniger um Kumari Kandam als um die Idee einer universellen künstlichen Sprache – einer Sprache ohne Unregelmäßigkeiten, Idiosynkrasien oder Zweideutigkeiten. Das Ziel war nicht nur, Menschen verschiedener Nationen zusammenzubringen, sondern im Verlauf dieses Unternehmens auch ihre Köpfe zu befreien: Für Irrtümer oder Paradoxien gab es keinen Platz in einer Sprache, in der jedes Wort eine absolut adamitische Beziehung zu seinem Gegenstand haben sollte. Die Vergangenheit auszugraben war zwar sehr vergnüglich, doch eine solche Sprache zu konstruieren hieß, in die Zukunft zu investieren.
    »Aber Erskine, niemand möchte eine brandneue Sprache sprechen – aus demselben Grund, aus dem niemand in einer brandneuen Burg leben möchte«, sagte Thurlow im Salon von Claramore. »Eine Sprache braucht ihre geheimen Gänge und zugemauerten Verliese. Wenn es nicht so wäre, hätten Dichter wie ich nichts mehr zu sagen.«
    »Umso besser«, sagte Erskine. Und dann hörten sie den Schrei eines Babys.
    In dem Gefühl, dass er keinen nützlichen Einfluss auf seinen Erben ausüben könne, bis der Junge mindestens acht oder neun sei, hatte Erskine sein Projekt ernsthaft in Angriff genommen. Er war fest entschlossen, die neue Sprache ohne alle Verunreinigungen durch bestehende Sprachen zu konstruieren, Latein und Griechisch eventuell ausgenommen; aber das war viel schwieriger, als er erwartet hatte, und er geriet selbst mit den elementarsten Synkategoremata heillos durcheinander, sodass er oft erst sehr spät beim Abendessen erschien, wo er seine Frau in angeregtem Gespräch mit Thurlow vorfand. Er sah sich sogar zu der Überlegung gezwungen, die Adverbien wieder hineinzunehmen, kam aber zu dem Schluss, dass er keinen Raum für sie gelassen hatte; das geschah am selben Tag im Juni 1882, an dem Sinners Großvater mit seiner Frau und seinen Töchtern nach Fluek zurückkehrte, wo ihnen von der örtlichen Behörde mitgeteilt wurde, dass es Juden gemäß der neuen von Zar

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