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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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versuche.«
    »Hättest du dann nicht irgendeinen anderen Juden nehmen können? Gibt jede Menge von uns. Fast so viele wie Käfer.«
    »Ich habe Sie nicht als Versuchsobjekt gewählt, weil Sie jüdisch sind. Ich habe Sie wegen Ihres Körperbaus ausgesucht. Wenn jeder Soldat in der Britischen Armee so stark und zäh wäre wie Sie, wären wir auf der ganzen Welt gefürchtet. Aber gleichzeitig würde alle Welt über uns lachen, wenn jeder Soldat so kümmerlich wäre wie Sie. Sie sind wie der verkrüppelte, aber kluge Hund, verstehen Sie, oder wie das gierige, aber gerissene Volk. Also, was soll man tun? Soll man Ihnen erlauben, sich fortzupflanzen oder nicht? Die orthodoxen Eugeniker würden sagen, dass man Ihnen das nicht erlauben sollte. Dass Ihre Blutlinie wegen eines dummen kleinen Geburtsfehlers ausgelöscht werden sollte, obwohl Sie doch auch so viele Vorzüge haben. Aber ist das nicht unfair?« Erskine sprach laut, und seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Sehr unfair? Und grausam und dumm?« Er wurde ruhiger. »Also habe ich eine andere Theorie entwickelt. Ich nenne sie ›Züchtungslemniskate‹, nach dem lateinischen Wort für ›Schleife‹, weil sich ein ererbtes Merkmal in einer Kurve von der allgemeinen Bevölkerung entfernen kann und dann wieder zurück … nun ja, das ist jedenfalls der Kern.«
    »Aber ich würde mir nicht aussuchen können, wen ich vögel?«
    »Nein. Trotzdem würden Sie sich nicht beklagen, weil Sie den Vorteil hätten, sich überhaupt eine Frau zu nehmen. Wenn Sie nicht nur klein, sondern auch noch schwach wären – wenn Sie über keine anderen Vorzüge verfügten –, käme das gar nicht infrage. Jedenfalls wäre das so, wenn die Dinge vernünftig geregelt wären, was sie gegenwärtig nicht sind.«
    »Gut für mich.«
    »Ja.«
    »Auch gut für dich.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Willst du mal eine Frau haben?«, fragte Sinner.
    »Ja.«
    »Kinder?«
    »Ich bin der Erbe von Claramore. Natürlich werde ich heiraten und Kinder haben. Ich weiß genau, was Sie andeuten wollen, Seth. Aber meine Theorie basiert nicht auf Eigennutz. Ich räume gerne ein, dass ich nicht besonders schön oder athletisch oder kämpferisch bin, aber das macht nicht den kleinsten Unterschied. Erstens habe ich meinen Intellekt. Zweitens, und das ist viel wichtiger, entstamme ich einer guten Familie. Die Eugenik ist eine radikale Wissenschaft, das stimmt, aber wir leben in England, nicht in Russland, und niemand würde es wagen, sich mit Englands guten Familien anzulegen. Das wäre gegen den Gründungsgeist des ganzen Vorhabens. Selbst von dem primitivsten Programm zur rassischen Verbesserung habe ich nichts zu befürchten. Diese Theorie befasst sich mit den Massen. Deshalb teste ich sie auch zunächst an den Käfern, die ich aus Polen mitgebracht habe. Ich möchte feststellen, ob ich eine Rasse züchten kann, bei der jede unerwünschte Eigenschaft ausgerottet und dennoch jede willkommene Eigenschaft verstärkt wird. Keine Kompromisse, keine Opfer. Beginnen Sie jetzt zu verstehen?«
    Sinner nickte.
    »Das freut mich. Ich habe nicht oft die Gelegenheit, all das zu diskutieren.« Sobald er das ausgesprochen hatte, erkannte Erskine, wie lächerlich es war, Sinner wie jemanden zu behandeln, mit dem man ernsthaft etwas »diskutieren« konnte. »Ich gehe jetzt in meinen Club«, fügte er unvermittelt hinzu.
    Im Club las er einen Zeitungsartikel über einen Amerikaner mit Namen Albert Fish, der auf dem elektrischen Stuhl gelandet war, weil er ein kleines Mädchen namens Grace Budd entführt und ermordet hatte. In einem Waisenhaus aufgewachsen, hatte Fish als Zwölfjähriger eine sexuelle Beziehung mit einem Telegrammboten angefangen, und zu seiner Homosexualität hatten sich schnell Sadomasochismus und Koprophagie gesellt und in der Folge Mord und Kannibalismus. Er war als »Werwolf von Wysteria« bekannt, als »Vampir von Brooklyn« oder einfach als »Grauer Mann«. Einmal hatte ein Mädchen in der Zuschauermenge beim Bootsrennen zwischen Oxford und Cambridge Erskine als »diesen grauen Mann« bezeichnet.
    Am nächsten Tag bekam Erskine einen Brief von seinem Vater, der seit fast einem Jahr eine Zusammenkunft politischer Natur in Claramore geplant hatte. Nun war endlich der Termin auf Anfang August festgelegt worden. Bedeutende Männer aus der ganzen Welt würden kommen, und Erskine selbst sollte Gelegenheit haben, einen kurzen Vortrag über die Eugenik zu halten. Als er weiterlas, wurde seine große Aufregung von

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