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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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Pangäisch, Orba und Volapük durch den heraufziehenden Sturm des Esperanto beiseitegefegt worden. Esperanto war das Werk von Ludwik Zamenhof, einem jüdischen Augenarzt aus Białystok, der manchmal sein Gemüse bei Sinners Großvater kaufte. Nachdem Sinners Großvater herausgefunden hatte, wer Zamenhof war, fragte er ihn eines Tages, warum er eine Sprache erfunden habe. »Die meisten von uns sind als Juden im Ghetto aufgewachsen«, sagte Zamenhof, der eine Tragödie mit fünf Akten über den Turmbau zu Babel geschrieben hatte, als er zehn Jahre alt war. »Wir hassen uns alle gegenseitig, Russen und Polen und Deutsche und Juden, und trotzdem müssen wir zusammenleben. Ich glaube, dass niemand das Elend der Barrieren zwischen den Menschen so gut nachvollziehen kann wie ein Jude aus dem Ghetto. Niemand versteht die Notwendigkeit einer Sprache ohne Nationalität so gut wie ein Jude, denn er ist gezwungen, in einer Sprache zu seinem Gott zu beten, die längst tot ist, er wird mit der Sprache eines Volkes groß, das ihn angespuckt hat, und er hat Leidensgenossen auf der ganzen Welt, mit denen er sich nicht verständigen kann.« Ganz offensichtlich war diese Rede oft geprobt worden, aber trotzdem erfüllte sie Sinners Großvater mit Begeisterung. Er vermutete, dass alle wichtigen Juden in London wie Lord Rothschild und Sir Moses Montefiore schon Esperanto gelernt hatten, und beschloss, es selbst auch zu tun, aber er kam nie dazu, weil er zu hart arbeiten musste, damit er über die Runden kam. (Zu jener Zeit mussten die Juden von Białystok für den Verzehr von koscherem Fleisch und das Anzünden der Sabbatkerzen Steuern zahlen. Das Erheben der Steuern oblag einem Juden namens Salomon Kofler, dessen Männer ins Haus kamen und die Kerzen löschten, wenn man keine Quittung vorzeigen konnte.)
    Als sich Erskine bei Thurlow darüber beklagte, dass ein Jude die Dreistigkeit besaß, eine Sprache zu erfinden, schrieb ihm Thurlow zurück und zitierte einen Artikel, den Joseph Addison 1712 im Spectator veröffentlicht hatte. »Sie sind in der Tat so verbreitet in allen Gebieten der Welt, in denen Handel getrieben wird, dass sie zu den Instrumenten geworden sind, durch die weit entfernte Nationen Gespräche führen und die Menschheit in einem Netz der Korrespondenz umfassend verknüpft wird. Sie sind wie die Pflöcke und Nägel in einem großen Gebäude, die, obgleich sie selbst nur wenig Wertschätzung erhalten, absolut notwendig sind, um das gesamte Gebilde zusammenzuhalten.« Erskine schrieb zurück: »Ganz offensichtlich spricht Addison über Sprachen, aber ich bin mir nicht sicher, worauf ›sie‹ sich bezieht. Englisch und Französisch vielleicht? Ich verstehe auch nicht, was das mit Zamenhof zu tun haben soll.« Thurlow antwortete: »Er spricht nicht über Sprachen. Er spricht über Juden.«
    Im folgenden Jahr entdeckte Erskine, dass sich in absehbarer Zeit eine Delegation für die Annahme einer internationalen Hilfssprache in Paris treffen würde. Er war entschlossen, Pangäisch dafür vorzuschlagen, und deshalb setzte er sich an die zweite Ausgabe der Pangaean Grammar and Lexicon , in der er zumindest ein paar der Kritikpunkte berücksichtigte, die er sowohl von den britischen Anhängern als auch vom Advocatus Diaboli, von Thurlow, gehört hatte. Halb davon überzeugt, dass es sich bei Esperanto um eine kosmopolitische Verschwörung handelte, beschloss er jetzt, dass Pangäisch dabei helfen sollte, nicht nur die Vernunft seiner Sprecher einem Reinigungsprozess zu unterziehen, sondern auch ihre Moralbegriffe. Aber er ging nicht so grobschlächtig vor, einfach Wörter auszumerzen, wie es einige seiner Konkurrenten taten – das würde nur die Korrumpierung der Sprache durch Slang beschleunigen. Stattdessen legte er die Synkategoremata an die Kette, sodass man immer noch mit Leichtigkeit Dinge wie »rennen«, »stand« und »bremse« sagen konnte, sich aber gleichzeitig eine Art semantischer Trägheit schwer auf die Zunge legte. Und während Erskine durch seine eigene Schöpfung donnerte, donnerten die Schwarzen Hundert durch die jüdischen Bezirke von Białystok. Die meisten von ihnen waren betrunken, sodass die Juden eine hastige Selbstverteidigung aufstellen und die Eindringlinge mit Ketten und Hämmern und Pistolen zerstreuen konnten, aber dennoch wurden Sinners Tanten beide vergewaltigt, sein Großvater verlor ein Auge, und alles, was sie besaßen, wurde zerstört. Sinners Großvater kam zu dem Schluss, dass die Stadt noch

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