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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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machen sollte. Gewaltandrohungen? Selbst für diesen unwahrscheinlichen Fall wollte es ihm einfach nicht gelingen, Besorgnis zu empfinden.
    Sinner hielt in Erskines Zimmer ein Schläfchen, obwohl er sich natürlich nicht die Mühe gemacht hatte, die Koffer auszupacken. Wenn sich ein Fuchs in die Straßen von London verirrte, hatte sich Erskine oft gefragt, bemerkte er dann eine Veränderung, und machte sie ihm etwas aus? Wohnte Beton und Glas, Geraden und rechten Winkeln eine profunde Unstimmigkeit inne, wie in einem Albtraum, oder war die Weltauffassung des Tieres so wild und anmutig wie das Tier selbst? Auf dieselbe Weise fragte er sich jetzt, ob sich Sinner in Claramore fehl am Platze fühlte oder ob er die bloße Möglichkeit, sich fehl am Platze zu fühlen, die natürlich eine Schwäche beinhaltete, höhnisch zurückgewiesen hätte.
    Er streichelte einen Moment lang die Schulter des Jungen; als Sinner sich rührte, verwandelte er die streichelnde Bewegung schnell in eine heftig rüttelnde. »Mein Vater sagt, Sie müssen mit mir zusammen in diesem Zimmer schlafen.«
    »So?«
    »Aber es gibt keinen Grund, dass Sie sich tagsüber hier aufhalten. Sie sollten nach unten gehen. Bitten Sie Tara um ein Klappbett.« Als Sinner sich anschickte zu gehen, sagte Erskine noch: »Übrigens, wenn dieses Arschloch Morton Sie um etwas bittet, und sei es nur, ein Telegramm aufzugeben, tun Sie es nicht, verstanden?«
    Erskine hatte noch nie zuvor in seinem Leben »Arschloch« gesagt.
    »Wer ist Morton?«
    »Der Verlobte meiner Schwester. Er ist ein absoluter Bazillus. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mir wünsche, dass ihm etwas Schreckliches zustößt.«
    Erskine war der Menschheit bereits überdrüssig, sodass er nicht wieder hinunterging, sondern sich mit einem Buch auf sein Bett legte, bis um halb acht das Telefon läutete. Er hob ab und hörte den blechernen Klang eines Gongs. Es war Zeit, sich zum Abendessen umzuziehen.
    Auf dem Weg zurück nach unten traf er auf zwei Männer mit großen Ohren, die auf dem Treppenabsatz standen und sich auf Deutsch stritten. Als er Erskine erblickte, unterbrach der ältere Mann den Disput und sagte: »Guten Abend. Sie sind Philip Erskine, vermute ich. Ich bin Berthold Mowinckel, und das ist mein zweiter Sohn, Kasimir.« Als er Berthold Mowinckels Hand schüttelte, erinnerte sich Erskine erfreut, dass Mowinckel wahrscheinlich auch Hitlers Hand geschüttelt hatte.
    Mowinckel, dekorierter Oberstleutnant der österreich-ungarischen Armee, hatte es bald nach dem Ersten Weltkrieg nach München verschlagen. Nachdem er bei einer Vorlesung einem ehemaligen Soldaten und Kunststudenten namens Walter Nauhaus vorgestellt worden war, wurde er Mitglied der Thule-Gesellschaft. Bei dem dritten Treffen, an dem er teilnahm, stand er auf und verkündete, dass er eine seltene mystische Gabe in sich entdeckt habe, nämlich hellseherische Erinnerung an die Ahnen, was bedeutete, dass er die gesamte Geschichte seiner Sippe erinnern konnte, wie sie vom Anbeginn der menschlichen Rasse von erstgeborenem Sohn an erstgeborenen Sohn überliefert worden war, so deutlich, als sei er selbst dabei gewesen.
    Seine Chronik begann etwa 228   000 vor Christi Geburt, als es drei Sonnen am Himmel gab und die Erde von Riesen, Zwergen und Wasserzentauren bevölkert war. Nach einer langen Periode der Konflikte halfen seine Mowinckel-Ahnen – Abkömmlinge einer Verbindung zwischen den Luftgöttern und den Wassergöttern –, den Frieden wiederherzustellen, und gründeten bald bedeutende Kolonien in der Ferne, bis hin zu Agartha in Tibet. Ungefähr um 12   500 vor Christus brach dann ein Krieg zwischen den Irminengläubigen von Krist und den verderbten Wotanisten aus. Der Krieg tobte in unterschiedlicher Intensität bis zum Jahre 777 nach Christus, als es dem Erzwotanisten Karl dem Großen durch Verrat gelang, das irminische Heiligtum bei den Externsteinen in der Nähe von Detmold zu erobern, sodass die Mowinckels nach Russland fliehen mussten. Berthold Mowinckel selbst war sein ganzes Leben lang von den Wotanisten, den Katholiken, den Juden und den Freimaurern verfolgt worden, die alle zusammen auch die Schuld an Deutschlands Niederlage im Weltkrieg und am Zusammenbruch des Habsburgerreiches trugen; ein Frevel, der nur unwesentlich größer war als die durch dieselbe Verschwörung verursachte Sabotage an der Haarbürstenfabrik, in die Mowinckel den größten Teil der Ersparnisse seiner Frau gesteckt hatte.
    Mowinckel

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