Flieg, Hitler, flieg!: Roman
Brief schreiben. Aber ungefähr sechs Monate später bekam ich meine Partituren mit einer vorgedruckten Karte zurück, auf der stand, sie seien ›ungeeignet‹. Es war ganz offensichtlich, dass sie nicht einmal geöffnet worden waren. Ich habe mich erbärmlich gefühlt. Es wird leichter sein, wenn ich erst die ganze Zeit in London bin. Dann kann ich die richtigen Leute treffen.«
»Wie lang noch bis dahin?«
»Morton und ich heiraten im Frühjahr.«
»Dein Bruder glaubt anscheinend, dass der Kerl ’n ziemlicher Arsch ist.«
»Nun ja, Morton hat Philip in Cambridge fürchterlich schikaniert. Aber auf der Schule war ich auch ein kleines Miststück. Er ist eigentlich kein schlechter Kerl.«
»Er ist kein schlechter Kerl?«
»Nein. Beim Essen heute Abend hat er mich sehr beeindruckt.« Sie schloss den Klavierdeckel und öffnete ihn wieder. »Sie fragen sich, warum ich ihn heirate, wenn das das Beste ist, was ich über ihn sagen kann?«
Sinner zuckte mit den Schultern.
»Wenn ich in London bin, wohne ich immer bei Caroline, die meine beste Freundin aus der Schulzeit ist«, sagte Evelyn. »Ihre Eltern leben in Kensington. Aber jetzt wird sie einen ganz reizenden Schotten heiraten und geht mit ihm nach Edinburgh. Dann weiß ich nicht mehr, wo ich wohnen soll, es sei denn, ich gehe zu meinem Bruder. Aber jetzt hat er dich, und ich störe nur ungern bei … Du weißt schon. Also bin ich ständig hier gefangen. Und hier kann ich überhaupt nichts schreiben. Ich kann üben, aber ich kann nicht komponieren. Ich brauche die Stadt. Ich brauche den Lärm, den Schmutz, das Labyrinth. London ist so undurchdringlich, und Undurchdringlichkeit hat so etwas Erotisches, findest du nicht? Auf dem Land bin ich nutzlos. Wenn ich Morton heirate, kann ich für den Rest meines Lebens in London leben, und Vater kann mich nicht mehr mit seinem Testament unter Druck setzen – und außerdem hat Morton immer die interessantesten Essensgäste, obwohl er so ein hochnäsiger Faschist ist. Ich weiß, er wird mich tun lassen, was ich will, und ich kann viele aufregende Affären haben und so weiter. Und er sieht gut aus, wenn auch lange nicht so gut, wie du es tust – auf eine komische Art. Die Alternative ist, hier in Claramore zu sitzen und verrückt zu werden, bis ich bei irgendeinem Jagdball den Sohn eines Landadligen mit Hängebacken treffe und am Ende irgendwo lebe, wo es genauso ist wie hier, und mit jemand verheiratet bin, der genau wie Vater oder – schlimmer noch – genau wie Philip ist. Ich weiß, man soll aus Liebe heiraten, aber das ist ziemlich schwierig, wenn man …« Sie merkte, dass ihr die Tränen kamen, und sie konnte sie nicht zurückhalten. Nach einer Weile blickte sie zu Sinner und hoffte, er würde sie trösten, aber er machte keine Anstalten. Sie schniefte. »Willst du nicht wenigstens etwas sagen? Eine Freundin von Caroline hat mir mal erzählt, dass man Homosexuellen wunderbar sein Herz ausschütten kann, aber ich finde das gerade nicht besonders wunderbar.«
»Tut mir leid«, sagte Sinner.
Evelyn griff nach seiner Hand, zog ihn vom Fußboden hoch und presste ihren Mund fest auf seinen.
Sinner war überrascht, aber bereit, ihren Wünschen nachzukommen – er empfand noch immer eine ungewöhnliche Zuneigung zu diesem anstrengenden Mädchen. Er schmeckte den Wein in ihrem Atem und spürte ihre Tränen auf seinen Wangen. Weibliche Körper waren zu weich, gaben zu leicht nach, wie verdorbenes Obst.
»Bitte …«, sagte sie, sah in seine Augen und hob den Saum ihres Kleides. Vor einer Minute hatte sie noch nicht gewusst, dass sie das wollte, so viel begriff er, aber jetzt konnte sie keine Minute länger warten.
Der Klavierstuhl war zu niedrig, also hob er sie an und hievte sie ungeschickt auf das Klavier, während sie ihre Arme um seinen Hals schlang. Als er seine Hose aufmachte, schob sie ihren Schlüpfer bis zu den Knöcheln nach unten und öffnete ihre zitternden Knie, wobei sie ihn immer noch küsste, als wolle sie ihm einen Kaugummi aus dem Mund stehlen.
(In diesem Augenblick ging Leonard Bruiseland am Salon vorbei. Er fragte sich, wer wohl so gedankenlos war, Klavier zu üben, nachdem der größte Teil des Hauses schon zu Bett gegangen war. Die hässlichen, hämmernden Akkorde verrieten ihm allerdings, dass es sich nur um Evelyn Erskine handeln konnte. Er wollte schon hineingehen und sie tadeln, aber dann kam er zu der Einsicht, dass sie sich, solange sie Klavier spielte, wenigstens nicht herumtrieb und
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