Flieg, Hitler, flieg!: Roman
und das Harmonium spielt praktisch die ganze Zeit. Kannst du dir diese Musik vorstellen? So eine gespenstische Dissonanz. Ich würde es so gern einmal hören und transkribieren. Godwin sagt auch, dass sich im Magen der Toten Gas sammelt, und wenn das Gas durch den Mund entweicht, stöhnen die Leichen manchmal, fast als würden sie singen. Es ist wie ein Lied über Verwesung von Anton von Webern. Ich habe versucht, aufzuschreiben, wie es meiner Meinung nach klingen könnte, aber ich kann nicht ganz … Komm, ich spiele es dir vor.«
Im Esszimmer für die Dienstboten hatte einst ein schäbiges Wandklavier für die Begleitung von Weihnachtsliedern gestanden, aber bald nachdem er das Messinghirn gekauft hatte, hatte William Erskine es durch eine Ondes Martenot ersetzt, die keiner spielen konnte, und so mussten Evelyn und Sinner nach oben in den Salon schleichen.
Je mehr er von dem Haus sah, das vor lauter Antiquitäten, Zierrat und Schmuckstücken aus allen Nähten platzte – ähnlich wie das von Rabbi Berg, doch ohne dessen Gemütlichkeit –, desto besser verstand Sinner, warum Erskine seine eigene Wohnung so karg halten wollte. Evelyn setzte sich, spielte ein paar Minuten und fragte dann: »Was hältst du davon?«
»Du kannst nich’ besonders gut spielen«, meinte Sinner, der auf dem Boden neben ihr saß.
»Es soll so klingen. Hat es dir nicht gefallen? Das ist schade. Brecht behauptet, die Arbeiterklasse liebt das Avangardistische«, sagte sie halb ironisch. »Ich spiele es noch einmal.«
Das tat sie.
»Klingt falsch.«
»Es klingt falsch! Genau das ist es – wenn man es so ausdrücken möchte. Siehst du, alle sagen, dass die Atonalität eine Perversion ist. Zwölftonmusik ist angeblich fremd und unheilvoll und subversiv. All diese Dummköpfe denken, dass das tonale System gottgegeben ist und dass man verrückt oder böse sein muss, wenn man es verwirft. Es stimmt natürlich, dass es die Töne zum Dreiklang zieht, und Dreiklänge zieht es zur Tonalität, aber im Leben geht es ja schließlich darum, dem zu widerstehen, was an einem zieht – das müsstest du doch besser wissen als ich.« Sie spielte noch ein paar Takte. »Schönberg sagt: ›Was Dissonanz und Konsonanz unterscheidet, ist nicht ein größerer oder geringerer Grad an Schönheit, sondern ein größerer oder geringerer Grad an Fasslichkeit.‹ Aber er irrt sich. Beethoven ist nicht leichter zu verstehen als Berg. Es geht nicht um Schönheit oder Verständlichkeit. Es geht um das Leben. Dissonanz ist der Klang des Lebens im zwanzigsten Jahrhundert.«
»Die ganzen Kämpfe …«, spekulierte Sinner. Auf Pearls oder Erskines Versuche, ihn zu unterrichten, hatte er gelangweilt und gereizt reagiert, aber während Evelyn redete, dachte er daran zurück, wie oft er dagesessen und Anna zugehört hatte, die ihm eine Lehrstunde gab: stricken, Hüpfspiele, Eier zerschlagen, ohne sich die Finger vollzuschmieren. Er war nie ein guter Schüler gewesen, und er hatte ihr im Gegenzug nichts beizubringen gehabt; sie hörte seine Geschichten gern, aber er hatte nicht viele zu erzählen, für die sie alt genug gewesen wäre.
»Guter Versuch, aber gar so einfach ist es nicht – Kriege sind so eindeutig wie Berge. Sehr tonal. Es geht um den Schrecken der Friedenszeit! Um all die Lügen des Kapitalismus, die Illusionen, die Heuchelei, die Unterdrückung, das Leugnen und die Schmerzmittel. Die Leute haben Angst vor der dissonanten Musik, weil sie tief in ihr die Wahrheit über ihre eigene Lage erkennen. Es ist nicht so, dass sie sie nicht verstehen – sie verstehen sie viel zu gut. Dissonante Musik ist ehrlich, während tonale Musik sich eine Art alberner oberflächlicher Einheit um den Preis der Vernichtung jeden Widerstands erkauft. Wenn man das verstanden hat, erkennt man, dass die Konsonanz wesentlich hässlicher ist als die Dissonanz, weil die Konsonanz der Klang der unblutigen Tyrannei ist.«
Sinner sah sie mit leeren Augen an. Sie lächelte.
»Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. Es ist nur so, dass ich mit niemandem mehr darüber reden kann, seit Alistair Thurlow ins Ausland gegangen ist.« Sinner erinnerte sich an eine ähnliche Bemerkung Philip Erskines vor einigen Wochen. »Ich habe herausgefunden, dass es bei der BBC einen Mann namens Ronald Slater gibt, der ›moderner Musik aufgeschlossen gegenübersteht‹, also habe ich ein paar Partituren eingepackt und sie dort hingeschickt. Ich hatte gehofft, er würde mir wenigstens einen
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