Flieh solange du kannst
fahren? Dann können Sie sich ausruhen.”
Widerstrebend hob Preston den Kopf. Zerbrechlich und sorgenvoll sah sie ihn an, genau wie Christy damals, vor zwei Jahren. Er fragte sich, welche schrecklichen Ereignisse wohl für ihren ängstlichen Gesichtsausdruck verantwortlich waren. Gleichzeitig wollte er nichts davon wissen. Er durfte sich da nicht hineinziehen lassen, er konnte sich nicht darum kümmern. In seinem Innern gab es nur noch ein einziges Gefühl, die unbändige Sehnsucht, seinen Jungen noch einmal in die Arme schließen zu können. Aber das war unmöglich. Und so blieb nur noch der Hass übrig, der Hass auf den Mann, der Dallas auf dem Gewissen hatte. Diesen Mann wollte er zur Strecke bringen.
“Steigen Sie ein”, sagte er und hoffte, sie würde einfach nur tun, was er verlangte.
Aber das tat sie nicht. Stattdessen fragte sie: “Ist alles in Ordnung mit Ihnen?”
Kalter Schweiß lief Preston den Rücken hinunter, wie immer, wenn ihn die alten Bilder quälten. Er versuchte sich zusammenzureißen, doch dieses eine Bild, das sich in sein Gedächtnis eingegraben hatte, ließ ihn nicht los. Das Bild von Dallas, der von Fieberanfällen gepeinigt, heftig schwitzend auf dem Bett lag. Und daneben Christy, Gebete vor sich hinmurmelnd und um sein Leben flehend. Vincent, der nicht wusste, was er noch tun sollte. Und schließlich das Bild vom sechs Jahre alten Dallas, klein, zerbrechlich und unschuldig in seinem Sarg, steif und kalt und für immer von ihnen getrennt.
Die Anwesenheit von Emma und Max bewirkte, dass er sich wieder an alles erinnerte. Wieder spürte er den Schmerz dieses bitteren Verlustes. Alle mühsam in zwei Jahren verheilten Wunden brachen erneut auf, nur weil zwei Menschen in sein Leben getreten waren.
Mit zitternder Hand griff er nach dem Türgriff. Ihn schwindelte. Er musste sich abstützen.
“Machen das die Zigaretten?”, hörte er Max flüsternd fragen.
“Geh mal los und such dir noch so einen schönen Stein, okay?”, erwiderte sie. “Aber such auf der anderen Seite, ein Stück weiter von der Straße entfernt.”
Jetzt, wo Max endlich einmal die ersehnte Erlaubnis bekommen hatte, im Dreck wühlen zu dürfen, wollte er nicht weg. “Was hat er denn?”
“Es ist nichts Schlimmes. Geh einfach spielen, okay?”
Endlich tat Max, worum Emma ihn bat. Abgesehen von dem einen oder anderen gelegentlich vorbeirauschenden Auto, umgab sie die große Stille der Wüste. Alles schien wie erstarrt. Wie eine große Glocke lag die Mittagshitze über der endlos weiten Landschaft.
“Sind Sie krank?”, fragte Emma.
Preston holte tief Luft und nahm alle Kräfte zusammen, um die schlimmen Erinnerungen zu bannen und zu vermeiden, dass sie ihn in den Abgrund einer lähmenden Depression zogen. Schuld und Zorn überfielen ihn manchmal mit solcher Wucht, dass er sich nicht dagegen wehren konnte. In gewisser Weise war auch er ein Opfer, genau wie Dallas. Aber er wollte diese Opferrolle nicht sein Leben lang spielen. “Nein.”
“Aber irgendetwas stimmt doch nicht.”
“Es geht schon wieder.” Er dachte an die Pistole und das Versprechen, das er sich gegeben hatte. Bald wäre alles vorbei …
“Geben Sie mir die Autoschlüssel”, sagte Emma. “Ich fahre ein paar Stunden.”
Er schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. “Nein.” Er fühlte sich ja schon besser, hatte sich schon wieder im Griff.
“Warum ruhen Sie sich nicht ein bisschen aus und ich kümmere mich um die Weiterfahrt?”
Ein Laster hupte im Vorbeifahren, und der heiße Fahrtwind wehte ihr die blonden Haare ins Gesicht.
“Nein, ich brauche keine Pause. Mir geht’s gut”, erwiderte er so barsch wie möglich, aber es schien sie nicht zu beeindrucken.
“Also hören Sie mal. Sie können morgen wieder den harten Mann spielen. Dann müssen Sie sowieso wieder zwei Tage ganz allein fahren.”
Harter Mann? Er wünschte, er wäre einer. Wünschte, er wäre so hart und stark wie Christy und könnte sein Leben einfach noch mal von vorn beginnen. Die ganze Zeit während Dallas’ Krankheit hatte Preston nicht eine einzige Träne vergossen. Und bis heute ließ er nicht zu, dass all das Leid, das tief in ihm verborgen lag, sich seinen Weg nach draußen bahnte. Christy dagegen hatte von Anfang an geweint. Und jetzt war sie wieder verheiratet. Auf der Einladung zu ihrer Hochzeit hatte sie ihm mit einem strahlenden Lächeln von einem Foto entgegengesehen, neben dem Mann, der einmal ihr Nachbar gewesen war.
Man muss vergessen können
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