Flieh solange du kannst
Stimme bekam einen schärferen Ton. “Ich habe noch nie einen Menschen mit einer so großen Abneigung gegen Kinder getroffen.”
Sie erwartete Protest. Im Grunde hoffte sie sogar darauf, denn sie hätte sich gern ein wenig mit ihm gestritten, weil sie instinktiv allen Menschen misstraute, die Max nicht mochten.
“Ich habe doch gar nichts gegen Ihren Sohn gesagt.”
“Aber ich habe Ihre Abneigung deutlich gesehen. Sie wirken ja regelrecht verbittert.”
“So? Meinen Sie? Dann hätte ich Sie ja genauso gut Ihrem Schicksal überlassen können”, gab er zu bedenken.
Emma musste zugeben, dass das ein Widerspruch war. Vielleicht half er ihnen nicht gern, aber immerhin half er ihnen. “Sie haben recht”, lenkte sie ein. “Es tut mir leid.”
Darauf erwiderte er nichts. Stattdessen wandte er sich ab und sah aus dem Fenster. Sein Gesicht spiegelte sich im Fensterglas, der ausgeprägte Wangenknochen, das kräftige, mit Bartstoppeln übersäte Kinn mit einem Grübchen in der Mitte.
“Sind Sie diese Straße schon oft langgefahren?”, fragte sie.
Er schaute weiter nach draußen. “In den letzten sieben Monaten war ich so gut wie überall in Nevada. Aber die meiste Zeit in Fallon, bei Maude im Motel.”
“Eine Anstellung haben Sie dort aber nicht gesucht. Und richtig niederlassen wollten Sie sich vermutlich auch nicht?”
Jetzt schaute er sie wieder an. “Nein, das wollte ich nicht.”
Wahrscheinlich hat er die ganze Zeit in Motels gelebt, dachte Emma. Sie hätte ihn gern gefragt, warum er ein so unstetes Leben führte, was ihn aus der Bahn geworfen hatte. Aber es stand ihr nicht zu, ihn nach seiner Vergangenheit zu fragen. Mit Sicherheit würde er sehr barsch reagieren. Sie entschied, eine weniger persönliche Frage zu stellen.
“Die Orte hier an der Straße sehen irgendwie alle gleich aus. Und ein bisschen so, als würden sie langsam sterben.”
“Die Menschen in dieser Gegend leben vom Bergbau. Und nun werden die Minen geschlossen. Aber sie sind hart im Nehmen. Sie kommen schon irgendwie durch”, sagte er.
Wie er das sagte und wie er dabei aussah ließ vermuten, dass er zu dieser Landschaft gehörte. “Sie sind nicht zufällig von hier?”, fragte Emma.
“Finden Sie, ich sehe wie ein Bergarbeiter aus?”
“Nein, das nun wirklich nicht.”
“Warum sollte ich dann aus dieser Gegend stammen?”
Dazu fiel ihr erstmal nichts ein. Sie schwieg.
Er lächelte gezwungen. “Vergessen Sie’s einfach.”
“Was denn?”
“Sie glauben, ein Mensch, der keine Kinder mag, gehört in so eine Wüstenei, stimmt’s?”
“Nein, das habe ich nicht gedacht”, widersprach sie. “Ich dachte eher, dass die herbe Schönheit dieser Landschaft und Sie …”
Erstaunt zog er die Augenbrauen in die Höhe. “Herbe Schönheit?”
Sie lachte. “Sie möchten wohl nicht gern als herbe Schönheit bezeichnet werden. Finden Sie, das passt nicht zu ihrer Männlichkeit?”
“Es überrascht mich nur.”
“Wieso?”
“Das fragen Sie noch? Ich habe mich seit Tagen nicht mehr rasiert. Und ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal beim Friseur war.”
“Vom Haarschnitt spreche ich ja auch gar nicht.” Sie musterte seine Kleidung, das alte T-Shirt und die löchrige Jeans. “Und von ihren Klamotten übrigens auch nicht.”
“Wovon dann?”
“Von Ihrem Gesicht, Ihrem Körper.”
Emma konnte einen leicht bewundernden Unterton in ihrer Stimme nicht verhindern. Prompt trafen sich ihre Blicke, und schon bereute sie ihre freimütige Aussage. Zuerst hatte sie ihn verletzen wollen, und dann machte sie ihm Komplimente? Na ja, sie versuchte nur, ihre bissige Bemerkung ein wenig auszubügeln, sonst nichts. Aber als er sie jetzt so forschend ansah, wurde ihr wieder bewusst, dass sie den Mann, mit dem sie hier ganz allein durch den einsamsten Landstrich Amerikas fuhr, kaum kannte. Nur Max war noch da, aber der kleine Max schlief auf dem Rücksitz.
“Nehmen Sie das aber bitte nicht zu wörtlich. Ich … ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.”
Er schwieg einige Minuten. Dann schaute er sie wieder an und fragte betont sachlich: “Der Mann, von dem Sie diese Brandwunde da haben. Ist das der Vater von Max?”
“Ja.”
“Sie haben aber nur von Ihrem Freund gesprochen.”
“Wir sind nicht verheiratet.”
“Warum nicht?”
“Seine Familie war dagegen.”
“Und er hat sich gefügt? Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter.”
“Er fühlt sich seiner Familie sehr verbunden.”
“Kaum
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