Flieh Wenn Du Kannst
Sie hatte bis zu dem Tag, an dem Sam in ihr Haus gezogen war, nie Ratten gehabt. Bonnie griff in die Tiefe des Schranks nach einer Metallflasche, die ganz hinten stand.
»Ich will heim«, murrte Amanda und ließ sich mit ihrem vollen Gewicht gegen Bonnies Rücken fallen. Bonnie verlor das Gleichgewicht, fiel um und riß dabei die Flaschen mit dem Spülmittel und die Plastikwanne mit, so daß Schwämme und Wischlappen herausfielen.
Amanda lachte. »Du bist schuld!«
Bonnie richtete sich hastig wieder auf, sammelte Schwämme und Lappen ein und warf sie in die Wanne, stellte die Flaschen mit dem Spülmittel an ihren Platz und zog dann die Metallflasche aus dem Schrank.
Sie sah den Totenschädel mit den gekreuzten Knochen, ehe sie irgend etwas anderes sah. »Vorsicht! Gift!« stand in fetten schwarzen Lettern über dem Totenschädel. »Rattentod«, stand etwas weiter unten in orangefarbener Schrift auf schwarz-weißen Streifen, und noch kleiner darunter, »Rattengift«. In der Mitte des Etiketts prangte die Zeichnung einer toten Ratte.
Bonnie schluckte. Ihr schwindelte, Schauer überliefen sie, als sie den Metallbehälter umdrehte. »Vorsicht«, las sie. »Gefährliches Gift. Für Kinder unerreichbar aufbewahren. Nicht zusammen mit Nahrungsmitteln lagern. Nicht in Schränken lagern, in denen Nahrungsmittel oder zum Kochen verwendete Haushaltsgegenstände aufbewahrt werden. Bei Einnahme keinesfalls Erbrechen herbeiführen. Hauptbestandteil: Arsen.«
Bonnie ließ die Flasche fallen. Sie rollte davon. Amanda lief ihr hinterher und grapschte danach.
»Rühr sie nicht an!« schrie Bonnie so heftig, daß das Kind erschrocken zurücksprang. »Entschuldige, Herzchen«, sagte Bonnie hastig. »Aber weißt du, das ist etwas sehr Gefährliches. Das darfst du nicht anfassen.«
»Aber warum hast du sie angefaßt?« fragte Amanda.
»Ich hätte es nicht tun sollen«, sagte Bonnie und streckte die Hand nach der Flasche aus.
»Tu sie weg, Mami!« schrie Amanda weinend. »Tu sie weg.«
Bonnie stellte die Flasche wieder in den Schrank und knallte die Tür zu.
»Ich will heim, Mami. Ich mag das Haus nicht. Ich möchte heim.« Amanda war schon aus der Küche.
»Amanda, warte!« rief Bonnie ihr nach. »Warte auf mich.«
»Ich will heim«, jammerte Amanda, als Bonnie sie in ihre Arme schloß.
»Hast du nicht Lust, ein Eis essen zu gehen?«
»Nein, ich will heim«, erklärte Amanda störrisch.
»Wir können noch nicht wieder nach Hause, Schatz.«
»Ist L’il Abner wieder weg?« fragte Amanda. »Ich hab’ gar keine Angst mehr vor ihm, weißt du. Sam hat mir gesagt, daß er nur so böse war, weil er Hunger hatte, und daß er jetzt immer aufpaßt, daß er nicht wieder Hunger kriegt.«
»Das ist gut, Schatz.«
»Ich mag Sam gern.«
»Ich auch«, sagte Bonnie und wußte, daß es wahr war. Konnte der Junge wirklich ein kaltblütiger Mörder sein? Sie öffnete die Haustür und ging mit Amanda hinaus.
»Und L’il Abner mag ich auch gern. Der ist cool.«
Bonnie sperrte ab. »Ja, da hast du recht.«
Sie trug Amanda die Treppe hinunter und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Zuerst einmal, beschloß sie, würde sie Amanda ein Eis kaufen, dann würde sie noch einmal bei der Polizei anrufen und darauf bestehen, mit Captain Mahoney zu sprechen, ganz gleich, wo er war, damit sie ihm von ihrem Fund erzählen konnte. Vielleicht wußte er, was sie tun sollte.
»Bonnie?« sagte die Frau, die neben ihrem Wagen stand.
Bonnie erblickte die große blonde Frau im buntfleckigen Malerkittel. Wie lange stand sie schon dort?
»Hallo, Caroline«, sagte sie und ließ Amanda zu Boden.
»Ich habe Ihren Wagen kommen sehen und dachte mir, daß Sie es vielleicht wären«, begann Caroline. »Aber Sie sahen so anders aus, und ich kannte das kleine Mädchen nicht...«
»Das ist meine Tochter Amanda«, sagte Bonnie.
»Es freut mich, dich kennenzulernen, Amanda.« Caroline Gossett ging in die Knie und reichte Amanda die Hand. »Wirst du manchmal auch Mandy genannt?«
»Mein Onkel Nick nennt mich so.«
»Also, Mandy, du bist wirklich ein süßes kleines Mädchen.«
Amanda strahlte.
Caroline Gossett richtete sich wieder auf und sah Bonnie an. »Wie geht es Ihnen?«
»Ach, nicht besonders«, bekannte Bonnie.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« fragte Caroline.
»Ein Glas Wasser würde mir jetzt guttun.«
»Mir auch«, sagte Amanda. »Da drin«, sie wies auf Joans Haus, »durfte ich kein Wasser trinken, weil Mami gesagt hat, daß es nicht unser
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