Flieh Wenn Du Kannst
aus als vor einem Monat. Nicht einmal das Schild »Zu verkaufen« war angerührt worden. Die Polizei hatte das gelbe Band, mit dem das Anwesen abgesperrt worden war, entfernt. Jeder konnte das Gelände ungehindert betreten. Zweifellos war das Haus gründlich saubergemacht, Joans Blut sorgfältig entfernt worden. Nur ihr Geist war geblieben.
Vor dem Haus hielt Bonnie an und blickte den Weg hinauf zur Haustür. Wäre ich nur diesen Weg nie gegangen, dachte sie. Hätte ich nur nie auf Joan gehört. Wäre ich nur an jenem Morgen nicht ans Telefon gegangen. Hätte es etwas geändert?
»Wer wohnt hier, Mami?« fragte Amanda.
Bonnie fuhr hastig wieder los. »Niemand«, antwortete sie. Sie überlegte, wie lange es dauern würde, das Haus jetzt zu verkaufen, da es Schauplatz eines Mordes geworden war. Sie fuhr zurück zur Commonwealth Avenue, folgte ihr bis zur Chestnut Street und fuhr dann Richtung West Newton Hill.
Auch das Haus in der Exeter Street 13 mit der grünstichigen, beigefarbenen Fassade und den geheimnisvollen Buntglasfenstern schien unverändert. Von außen deutete nichts darauf hin, daß das Haus leer stand. Selbst der Rasen war gemäht, als wohnte noch jemand hier.
Bonnie hielt an und schaltete den Motor aus.
»Wo sind wir?« fragte Amanda wieder.
Bonnie öffnete die Tür, stieg aus, hob Amanda aus dem Kindersitz und trug sie in den Vorgarten des Hauses.
»Ist das eine Kirche?« fragte Amanda, den Blick auf die Fenster gerichtet.
»Nein, Schatz. Hier haben Sam und Lauren früher gewohnt.«
»Sind sie jetzt da?«
»Nein.« Bonnie führte Amanda den Weg hinauf zu der großen Holztür.
»Gehen wir rein?«
Bonnie wußte es selbst nicht. Sie griff in ihre Tasche, nahm ihre Schlüssel heraus, fand den richtigen, schob ihn ins Schloß. Sie hatte fast vergessen gehabt, daß sie einen Schlüssel zu Joans Haus besaß. Bis zu dem Moment, als ihr vor dem Auto die Schlüssel heruntergefallen waren und sie ihn an ihrem Bund gesehen hatte.
Hatte sie von dem Moment an gewußt, daß sie hierherkommen würde?
Die Tür öffnete sich mühelos, und Bonnie trat ein. Amanda lief ihr voraus. Bonnie erinnerte sich ihres ersten Besuchs in diesem Haus, hörte wieder die Stimme Laurens, als diese von oben nach ihrer Mutter gerufen hatte, erinnerte sich der Verwirrung in Laurens Gesicht, als das Mädchen über das Geländer geschaut und ihren Vater gesehen hatte, spürte wieder die zornigen Schläge, schmeckte das Blut auf ihrer Lippe.
Warum war sie hierhergekommen?
Amanda hüpfte ins Wohnzimmer. »Das ist ein komisches Haus, Mami«, rief sie und sprang von einem Teppich zum anderen, als spielte sie Himmel und Hölle. Vor dem großen, aus Backstein gemauerten offenen Kamin blieb sie stehen.
»Sei vorsichtig, Schatz«, sagte Bonnie. »Rühr hier lieber nichts an.«
Sie ging durch das mit schweren, dunklen Möbeln eingerichtete Eßzimmer in die Küche im hinteren Teil des Hauses. Schnell hatte sie die Speisekammer gefunden und öffnete die Tür.
Sie war fast leer. Nur ein paar alte Packungen Getreideflocken, ein Glas Pulverkaffee, ein Beutel Rosinen und eine große Tüte Zucker standen auf den Regalen. Ganz unten stand ein Bügeleisen, noch in der Verpackung, neben einem Stapel weißer Papierservietten.
Bonnie schloß die Tür zur Speisekammer und machte die Besenkammer auf, die gleich daneben war. Zwei Besen fielen ihr zur Begrüßung entgegen. Sie lehnte sie wieder an die Wand, schloß dann die Tür und ging zur Spüle. Sie bewegte sich wie ein Roboter, als wäre alles, was sie tat, vorprogrammiert.
»Kann ich ein Glas Milch haben?« fragte Amanda.
»Hier gibt’s keine Milch.« Bonnie kniete nieder und öffnete den Schrank unter der Spüle.
»Mögen die keine Milch?«
»Hier wohnt niemand mehr, Schatz. Also gibt es auch keine Milch hier.« Bonnie musterte die Gegenstände im Schrank – ein dunkelgrüner Mülleimer, eine Plastikwanne mit Schwämmen und Wischlappen, zwei Flaschen Spülmittel, eine kleine Flasche Mr. Clean.
»Kann ich dann wenigstens ein Glas Wasser haben?«
»Nein, Amanda.« Bonnie schob die Flasche Mr. Clean auf die Seite.
»Ist das Wasser auch schlecht?«
»Wir sind hier nicht zu Hause«, erinnerte sie Bonnie.
»Aber warum sind wir dann hier?« fragte Amanda ganz logisch.
Weil ich etwas suche, dachte Bonnie. Insektizide, Rattengift, Unkrautvernichtungsmittel, hatte Dr. Kline gesagt. Bonnie hatte weder Insektizide noch Unkrautvernichtungsmittel zu Hause. Rattengift hatte sie nie gebraucht.
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