Flieh Wenn Du Kannst
ordentlich aufgeräumt. Ganz im Unterschied zu meiner eigenen Küche, dachte Bonnie. Keine klebrigen Stellen auf dem Fußboden, keine getrockneten Soßenspritzer an den Wänden, keine Fingerabdrücke auf dem großen Glastisch. Kaum vorstellbar, daß in diesem Haus eine Frau mit zwei halbwüchsigen Kindern lebte. Sie ging durch eine zweite Tür auf der anderen Seite der Küche und kehrte zum Eingang zurück.
»Rod?« rief sie auf der Suche nach ihrem Mann.
»Ich bin hier drüben.«
Bonnie folgte dem Klang seiner Stimme in den kleinen Raum links neben der Haustür. Rod stand hinter einem vergoldeten Sekretär, in der rechten Hand einen großen Briefbeschwerer aus Kristall. Eingebaute Bücherregale nahmen drei Wände ein; ein burgunderrotes Ledersofa stand an der vierten, mit einem ovalen Teppich davor.
»Das war immer mein Lieblingszimmer«, sagte Rod. Sein Blick schien in weite Fernen gerichtet.
»Hier ist alles so sauber«, wunderte sich Bonnie. »Es ist fast gespenstisch.«
»Seit wann ist Sauberkeit etwas Gespenstisches?«
»Seit wir Amanda haben.« Bonnie hörte plötzlich Schritte im oberen Stockwerk. Rasch ging sie wieder hinaus, und Rod folgte ihr.
»Wer ist da?« Die Stimme klang dünn und zaghaft. »Mama? Bist du das? Hast du Besuch?«
»Lauren?« antwortete Rod und ging zur Treppe. »Lauren, ich bin’s, dein Vater.«
Schweigen folgte. Bonnie wartete neben Rod am Fuß der Treppe. Was würde er seiner Tochter sagen? Wie würde er der Vierzehnjährigen beibringen, daß ihre Mutter tot war, daß man sie ermordet hatte?
»Lauren, kannst du einen Moment herunterkommen?« sagte er. »Ich muß mit dir sprechen.«
Oben am Treppengeländer erschien ein blasses, mißtrauisches Gesicht. Mit großen Augen, die Lippen leicht geöffnet, sah Lauren herunter. Ihre Hände lagen fest auf dem Treppengeländer. Ein paar Sekunden lang blieb sie unschlüssig oben stehen, ehe sie sich dazu entschied, nach unten zu gehen. Sehr langsam, sehr vorsichtig stieg sie eine Stufe nach der anderen hinunter, sah dabei beharrlich auf ihre Füße und vermied jeden Blickkontakt mit ihrem Vater oder dessen Frau.
Sie trug die grüne Schuluniform der Schülerinnen der Bishop Privatschule für Mädchen: grüner Faltenrock, passende Kniestrümpfe; cremefarbene, langärmelige Bluse; grün-gold gestreifte Krawatte; schwarze Schnürschuhe. Ihr langes rotes Haar war mit einem grünen Band zum Pferdeschwanz zusammengenommen. Die scheußlichste Schuluniform, die man für teures Geld kaufen kann, dachte Bonnie, die genau wußte, welche Wahnsinnsbeträge Rod jedes Jahr an Schulgeld zu zahlen hatte. Auch dies war ein Teil der Scheidungsvereinbarung.
»Hallo, Lauren«, sagte sie, und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie stark die Ähnlichkeit zwischen Lauren und Amanda war, wie ausgeprägt das Erbe des Vaters in beiden Gesichtern war.
»Hallo, Schatz«, sagte Rod.
»Hallo, Daddy«, antwortete Lauren, als hätte Bonnie nichts gesagt, als wäre sie gar nicht vorhanden. »Was tust du denn hier?«
»Ich wollte euch besuchen«, antwortete Rod.
»Wieso?«
»Wo ist denn dein Bruder?« fragte er.
Lauren zuckte mit den Achseln. »Irgendwo unterwegs. Die haben heute Fortbildungstag in der Schule.« Ihr Blick flog zur Haustür. »Mama hat sich anscheinend verspätet«, sagte sie. »Sonst ist sie immer hier, wenn ich von der Schule heimkomme.«
»Hast du eine Ahnung, wann Sam nach Hause kommt?« fragte Rod.
»Nein. Wieso? Ist was?«
»Vielleicht sollten wir uns erst mal setzen«, begann Bonnie und brach ab, als sie merkte, daß niemand ihr zuhörte.
»Was ist los?« fragte Lauren, und Furcht trübte ihre großen, lichtbraunen Augen.
»Es hat einen Unfall gegeben«, begann Rod.
»Einen Unfall? Was für einen Unfall?« Lauren schüttelte schon den Kopf, als wollte sie die Realität dessen, was sie gleich hören würde, verleugnen.
»Deiner Mutter ist etwas passiert«, sagte Rod behutsam.
»Hat sie einen Autounfall gehabt? Liegt sie im Krankenhaus? In welches Krankenhaus haben sie sie gebracht?« Die Fragen überstürzten sich.
»Lauren, Liebes«, begann Rod, geriet ins Stocken, warf Bonnie einen hilfeflehenden Blick zu.
Bonnie holte tief Atem. »Lauren«, sagte sie, »es tut uns so leid, dir das sagen zu müssen...«
»Ich spreche mit meinem Vater«, unterbrach das Mädchen scharf.
Die Zurückweisung traf Bonnie wie ein körperlicher Schlag. Sie hielt sich am Geländer fest und ließ sich langsam hinunter, bis sich auf einer der unteren Stufen
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