Flieh Wenn Du Kannst
waren.
»Es ist vielleicht am besten, wenn Sue mit Amanda ein bißchen hinausgeht«, schlug Claire Appleby freundlich vor.
Amanda klammerte sich so fest an Bonnies Hals, daß diese das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Wie eine Boa constrictor, dachte sie mit Unbehagen, während sie sachte die Arme des Kindes von ihrem Hals löste.
»Es ist schon in Ordnung, Schätzchen«, sagte sie und stellte Amanda auf den Boden. »Es dauert nur ein paar Minuten. Und danach gehen wir ein Eis essen.«
»Erdbeer?«
»Ja, wenn du willst.«
»Ein böser Mann hat mich ganz voll Blut geschüttet.«
»Was?!«
»Sue«, sagte Claire Appleby mit einer nervösen Handbewegung zu ihrem blonden Haar. »Bitte gehen Sie jetzt mit Amanda auf den Spielplatz hinaus.«
»Ich will zu den Schaukeln«, erklärte Amanda.
»Okay, wer als erster dort ist«, sagte Sue.
Auf dem Spielplatz gab es ein ganzes Sortiment von Turngeräten, drei Rutschbahnen verschiedener Formen und Größen, einen riesigen Sandkasten und mehrere Schaukeln. Bonnie sah zu, wie Sue ihre Tochter auf eine der kleineren Schaukeln setzte, und wurde sich durch das plötzliche Engegefühl in ihrer Brust bewußt, daß sie die ganze Zeit den Atem anhielt. Hunderte quälender Fragen stürmten auf sie ein, aber ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Statt dessen liefen ihr die Tränen übers Gesicht und hinunter in den Kragen ihrer weißen Bluse. Hör auf zu heulen, schnauzte sie sich im stillen an. Heulen kannst du später noch.
»Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört«, versicherte Claire Appleby hastig.
»Aber was ist denn nun genau passiert?« fragte Bonnie mit erstickter Stimme.
»Sie wissen, daß wir die Kinder immer im Auge behalten...«
»Ja, ja, das weiß ich. Deswegen verstehe ich ja nicht...«
»Es tut mir leid, Mrs. Wheeler. Ich kann verstehen, daß Sie sehr erschrocken sind. Ich weiß, daß die letzten Tage für Sie sehr schwer waren. Ich habe die Zeitungen gelesen...«
»Bitte, sagen Sie mir doch endlich, was passiert ist«, drängte Bonnie.
»Die Kinder waren draußen auf dem Spielplatz«, begann Claire Appleby. »Sue und Darlene waren bei ihnen. Anscheinend ging Amanda auf den Weg hinüber. Sie erzählte Sue später, jemand hätte ihren Namen gerufen.«
»Jemand hat sie gerufen?«
»Ja, das sagte sie jedenfalls.«
»Hat sie auch gesagt, wer es war?«
»Das wußte sie nicht. Die Person hatte offenbar eine Kapuze oder etwas Ähnliches über dem Kopf, und sobald Amanda nahe genug war, goß dieser Mann einfach den Eimer über ihr aus.«
»Einen Eimer mit – Blut?« fragte Bonnie ungläubig.
»Wir glauben, daß es Blut war«, antwortete Claire Appleby ruhig. »Wir sind nicht sicher. Es war eine dunkelrote Flüssigkeit, und im ersten Moment glaubten wir, es sei Farbe. Aber...« Sie ließ den Satz in der Luft hängen.
»Aber was?«
»Es war keine Farbe. Sue sagte, ihr wäre fast das Herz stehengeblieben, als sie Amanda sah. Sie dachte, sie wäre gestürzt und hätte sich den Kopf aufgeschlagen. Daß sie sich nicht verletzt hatte, sahen wir erst, als wir das Zeug abgewaschen hatten. Ihr ganzes Gesicht und ihre Kleider waren voll davon. Die Kleider haben wir in einer Plastiktüte für Sie aufgehoben«, fügte Claire Appleby hinzu.
»Augenblick mal«, sagte Bonnie scharf. »Sie sagen, daß drüben auf dem Weg eine vermummte, fremde Person war, die einen Eimer voll Blut bei sich hatte, und sie ist niemandem aufgefallen?«
»Das ist leider richtig«, bekannte Claire Appleby.
Bonnie spürte, wie ihre Beine zu zittern begannen, fürchtete, sie würden ihr den Dienst versagen, und sie sah sich nach etwas um, woran sie sich hätte festhalten können. Es war nichts da. Sie stolperte, fiel taumelnd an einen der Kindertische.
»Setzen Sie sich doch.« Claire Appleby half ihr auf einen der kleinen Stühle. Sie wollte sich neben sie setzen, aber ihr üppiges Gesäß ließ sich nicht zwischen die Armlehnen pressen. »Amanda ist nichts passiert«, sagte sie wie schon zuvor. »Sie ist mit einem Schrecken davongekommen.«
Bonnie sah sich ungläubig im Zimmer um. Ihr Blick wanderte, ohne etwas wahrzunehmen, über die Mobiles, die von der Decke herabhingen, die großen, aus Papier ausgeschnittenen Buchstaben, die die Wände zierten, die Poster mit den Bildern wilder Tiere, die Kästen voller Spielsachen.
»Und wann ist das alles passiert? Wie lange ist es her?«
Claire Appleby sah auf ihre Uhr. »Noch gar nicht so lange. Zwanzig Minuten vielleicht.
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