Flieh Wenn Du Kannst
hatte. Die Grundstücke, auf denen die Häuser standen, waren groß, und es gab reichlich Bäume und Gewässer und gute saubere Luft. Der ideale Ort, um Kinder großzuziehen. Mit dem Auto nur fünfzehn Minuten von der Stadtmitte Bostons entfernt. Gleich um die Ecke von ihren Freunden Diana und Greg. Weit genug entfernt von Newton und Joan. Und noch weiter entfernt von Easton und dem, was von Bonnies Familie noch übrig war.
Nur hatten sich Diana und Greg kurz nach Amandas Geburt scheiden lassen, und jetzt verbrachte Diana den größten Teil ihrer Zeit in der Stadt. Und es schien, daß es keinen Ort gab, der von ihrer Familie und Rods geschiedener Frau weit genug entfernt war. Die Vergangenheit ist immer näher, als man glaubt, dachte Bonnie.
»Oh, entschuldigen Sie, haben Sie mich etwas gefragt?« Bonnie wurde sich plötzlich bewußt, daß sie nicht mehr auf das Gespräch geachtet hatte.
»Ich habe gefragt, ob Sie als Lehrerin beliebt sind«, wiederholte er.
»Beliebt?«
»Mögen Ihre Schüler Sie, Mrs. Wheeler?«
»Ich denke schon«, stotterte sie. »Das heißt, ich möchte es gern glauben«, schränkte sie augenblicklich ein und mußte an Haze denken, wie er nach dem Unterricht zu ihr gekommen und so dicht vor ihr stehengeblieben war. War es möglich, daß er hinter diesem Überfall auf ihre Tochter steckte? War es möglich, daß er etwas mit Joans Tod zu tun hatte? Kam die Gefahr, vor der Joan sie gewarnt hatte, vielleicht von ihm? Es gibt da einen Jungen«, sagte sie. »Er heißt Harold Gleason. Alle nennen ihn Haze. Er ist im vorletzten Jahr. Er macht mir in letzter Zeit etwas Schwierigkeiten, und er kannte Joan Wheeler. Er ist ein Freund Sams, meines Stiefsohns«, fügte sie hinzu und fühlte sich ungeschickt in ihrem Bemühen auszudrücken, was sie meinte. Sie berichtete Captain Mahoney genau, was Haze an diesem Morgen zu ihr gesagt hatte. Er schrieb es sich auf, doch seinem Gesicht war nicht anzusehen, was er davon hielt.
»Wissen Sie, wo dieser Harold Gleason wohnt?« fragte er dann.
Bonnie schloß einen Moment die Augen und versuchte die Adresse vor sich zu sehen, die auf der Schülerkarte stand. »Marsh Lane achtzehn«, sagte sie schließlich. »In Easton.«
11
Seit fast einer Viertelstunde fuhr Bonnie ziellos durch die breiten, gewundenen Straßen von Easton. Viele der Straßen hatten die gleichen Namen wie die in Weston: Glen Road; Beach Road; Country Lane und wie sie alle hießen. Sie kannte sie alle. Sie hatten sich in den mehr als drei Jahren, seit sie das letzte Mal hier gewesen war, nicht geändert, ja, waren eigentlich seit ihrer Kindheit unverändert. Was tat sie hier? Es würde bald dunkel werden. Wahrscheinlich würde sie nach Hause fahren. Was hoffte sie, damit zu erreichen, daß sie hier herumgondelte?
Die Polizeibeamten hatten ihr gesagt, sie würden Haze überprüfen, sie selbst solle sich jetzt erst einmal um ihre Tochter kümmern, mit ihr das Eis essen gehen, das sie ihr versprochen hatte. Das hatte sie getan und war danach sofort mit Amanda zu ihrem Hausarzt gefahren, der das Kind gründlich untersucht und für kerngesund erklärt hatte. Er hatte Bonnie geraten, mit Blutuntersuchungen zu warten, bis der Befund des Polizeilabors vorlag. Das Kind habe für einen Tag genug Blut gesehen, hatte der Arzt gemeint.
Sie war also mit ihrer Tochter nach Hause gefahren und war sich wie ein unwillkommener Eindringling vorgekommen, als sie die Haustür geöffnet und die aggressive Rap-Musik gehört hatte, die ihr aus den oberen Zimmern entgegenschallte. Sie hatte versucht, Rod anzurufen. Erfolglos. Man hatte ihr gesagt, er habe gerade mit einer Werbesendung zu tun und könne im Moment nicht gestört werden. Sie setzte Amanda mit Papier und Buntstiften an den Küchentisch und überlegte, was sie Sam und Lauren zum Abendessen machen könnte, entschied sich für Makkaroni mit Käse. Alle Kinder mögen Makkaroni mit Käse, dachte sie und fragte sich, ob der Weg zum Herzen eines Kindes so gerade und direkt sei wie der zum Herzen eines Mannes.
Rod rief an, als sie sich gerade zum Essen gesetzt hatten, und sagte, er werde später kommen, werde im Studio ein Sandwich essen, ob sie allein mit den Kindern zurechtkäme? Sie hörte Amanda lachen, drehte den Kopf und sah, daß Sam, von Lauren mit einem nachsichtigen Lächeln bedacht, aus seinen Makkaroni ein Gesicht bildete. Gleich darauf waren alle drei eifrig damit beschäftigt, aus ihren Nudeln Gesichter zu formen. Bonnies Mutter wäre entsetzt
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