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Flieh Wenn Du Kannst

Flieh Wenn Du Kannst

Titel: Flieh Wenn Du Kannst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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Haze mit lässig federndem Schritt auf sie zu, die eine Hand in der Tasche seiner schwarzen Jeans, in der anderen einen Hefter, aus dem ein paar leere Blätter hervorstanden. Dicht vor ihr blieb er stehen, wie immer von süßlichem Marihuanageruch umhüllt.
    »Äh... Mrs. Wheeler«, begann er. »Ich hab’ echt noch keine Zeit gehabt, den Aufsatz zu machen. Ich brauch’ unbedingt eine Verlängerung.«
    »Du hast mehr als genug Zeit gehabt«, entgegnete Bonnie.
    »Na ja, in der letzten Woche ist irgendwie alles drunter und drüber gegangen, mit dem Mord und so«, sagte er.
    Bonnie hatte schon den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, doch sie schloß ihn wieder. Wollte er allen Ernstes die Ermordung der Mutter seines Freundes als Entschuldigung dafür benutzen, daß er seine Hausaufgabe nicht rechtzeitig gemacht hatte? Und wunderte sie das eigentlich?
    »Ich kann dir leider nicht ganz folgen.«
    »Ich brauche noch etwas Zeit.«
    »Du kennst die Regeln, Haze. Für jeden Tag Verspätung gibt es Punktverlust.«
    »Aber ich muß dieses Jahr unbedingt durchkommen.«
    »Dann mußt du unbedingt anfangen zu arbeiten.«
    »So was Kleinliches«, brummte Haze.
    »Wie bitte?«
    »Sams Mutter war unheimlich kleinlich«, fuhr Haze fort und sah ihr dabei starr in die Augen. »Und Sie sehen ja, was ihr passiert ist.«
    Einen Moment lang war Bonnie wie vom Donner gerührt. Dann fragte sie: »Was willst du damit sagen?«
    »Ich muß unbedingt durchkommen«, wiederholte er und ging aus dem Zimmer.
     
    Bonnie saß am Ende dieses langen Tages im Lehrerzimmer, trank ihre dritte Tasse Kaffee und versuchte, sich zu entspannen. Diese ganze Heimlichtuerei lag ihr überhaupt nicht. Sie hatte alles gern offen und direkt. Nicht dieses Um-den-heißen-Brei-herumschleichen, kein Herumgerate. Das war einer der Gründe, weshalb sie mit Lyrik häufig ihre Probleme hatte. Warum sagen die nicht einfach, was sie meinen? fragte sie sich oft, und eben diese Frage stellte sie sich jetzt auch. Sie dachte an Josh Freeman und seine Weigerung, offen mit ihr zu sprechen; an ihren Bruder, der sich wie ein Exhibitionist im Gebüsch herumdrückte; an Haze und seine indirekte Drohung.
    Wahrscheinlich sollte sie die Polizei anrufen und von seinen merkwürdigen Bemerkungen berichten, aber sie bezweifelte, daß das irgend etwas bewirken würde. Die Polizei hatte kein Hehl daraus gemacht, daß sie noch immer die Hauptverdächtige war. Und die Gefahr, vor der Joan mich warnen wollte? hatte sie wiederholt gefragt. Die Gefahr, die angeblich mir und meinem Kind droht? Darauf hatten sie gar nichts gesagt. Gab es denn niemanden, der ihr eine befriedigende Antwort geben konnte?
    Sie sah auf die Uhr. Es war nach drei. Wo blieb Josh Freeman? Hatte er denn nicht eingewilligt, nach der Schule noch einmal mit ihr zu sprechen?
    Nein, nicht direkt, mußte sie sich eingestehen. Von Einwilligung konnte keine Rede sein. Im Gegenteil, auf ihren Vorschlag, noch einmal mit ihr zu sprechen, hatte er mit größtem Widerwillen reagiert, sie auf ihr Drängen nur mit einem lauen »Wir werden sehen« abgespeist.
    Seufzend sah Bonnie sich im Zimmer um. Die Nachmittagssonne brachte wie ein Spotlight die blau-beigen Vorhänge, die zu beiden Seiten des langen Fensters herabhingen, in ihrer ganzen Häßlichkeit zur Geltung. Anthony Higuera, ein Spanischlehrer, saß am anderen Ende des Raums in einer Ecke und korrigierte; Robert Chaplin, ein Chemielehrer, war in die Morgenzeitung vertieft und schüttelte bei der Lektüre immer wieder den Kopf. Josh Freeman war nirgends zu sehen.
    Ein interessanter Mann, dachte Bonnie bei sich, rätselhaft, sympathisch, aber unzugänglich; etwas in seinen Augen verriet ihr allerdings, daß er nicht immer so gewesen war. Doch seit er hier an der Schule war, blieb er meistens für sich, als hätte er Angst, es könnte ihm jemand zu nahe kommen. Sie erinnerte sich gehört zu haben, daß seine Frau bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen war, doch soweit sie wußte, hatte er mit keinem an der Schule darüber oder über irgendeinen anderen Aspekt seines Privatlebens gesprochen. Und wie war es mit Joan gewesen? Hatte er sich ihr anvertraut?
    Vielleicht, schoß es Bonnie plötzlich durch den Kopf, wartet er in seinem Klassenzimmer auf mich. Sie sprang so hastig auf, daß sie beinahe ihren Sessel umgestoßen hätte. Ich werde auf jeden Fall nachsehen, beschloß sie, eilte aus dem Lehrerzimmer und ging den Korridor hinunter zur Treppe am anderen Ende des Gebäudes.

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