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Flieh Wenn Du Kannst

Flieh Wenn Du Kannst

Titel: Flieh Wenn Du Kannst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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über die Zeichen des Frühlings. Trotz der beinahe winterlich kühlen Temperaturen hatten alle Bäume Knospen, manche blühten sogar schon. Es sah aus, als hätte jemand einen Finger durch eine Kreidezeichnung gezogen, die klaren Linien der Zweige verwischt und mit einem feinen grünen Farbhauch überzogen. Eine herrliche Jahreszeit, dachte Bonnie, während sie mehrere Mädchen beobachtete, die, offensichtlich verspätet, über die große Wiese liefen. Eines der Mädchen verlor ein Heft, sie mußte umkehren, um es aufzuheben. Bonnies Blick folgte ihr, sie sah, wie das Mädchen sich bückte und unter ihrem kurzen schwarzen Rock karierte Boxershorts zu sehen waren. Bonnie lächelte und wollte ihre Aufmerksamkeit eben wieder dem Text zuwenden, als etwas anderes ihr Augenmerk auf sich zog: Ein Mann stand am anderen Ende der Wiese, nicht ganz verborgen von den Bäumen. Beobachtete er die Mädchen? Oder stand er aus einem anderen Grund hier?
    Sie ging zum Fenster, beugte sich vor, drückte beinahe ihre Nase an das Glas. Als spürte er, daß er beobachtet wurde, trat der Mann aus dem Schatten der Bäume und zeigte sich. Er trug eine beigefarbene Windjacke über Bluejeans, und eine große Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern. Erschrocken trat Bonnie einen Schritt zurück und stieß gegen einen der Schultische.
    »Mrs. Wheeler, ist was?« fragte jemand.
    »Tracey, vertritt mich, bis ich wieder zurückkomme«, sagte Bonnie, schon auf dem Weg zur Tür. »Arbeitet an euren Aufsätzen«, befahl sie.
    »Was ist denn los?« flüsterte jemand.
    »Wer ist der Kerl da draußen?« fragte jemand anders.
    Bonnie rannte durch den Korridor zur Haupttür. Sie stieß sie auf und lief über die Wiese zu den Bäumen, wo sie den Mann gesehen hatte.
    Aber er war nicht mehr da.
    Bonnie blieb stehen, drehte sich einmal im Kreis, drehte sich noch einmal. Dieser gottverdammte Kerl, dachte sie, und Tränen des Zorns schossen ihr in die Augen. Sie würde sich das nicht gefallen lassen. Sie würde sich solchen Psychoterror nicht bieten lassen.
    »Nick!« rief sie, und der Wind trug ihre Stimme über die Wiese. »Nick, wo bist du? Ich weiß, daß du hier bist. Ich hab’ dich gesehen.«
    Hinter sich hörte sie raschelnde Schritte. Sie drehte sich um und kniff die Augen gegen die Sonne zusammen. Ein Mann kam gemächlichen Schrittes auf sie zu. Bonnie beschattete ihre Augen mit der Hand, um das Gesicht des Mannes erkennen zu können.
    »Ist was nicht in Ordnung?« fragte der Mann.
    Noch ehe sie sein Gesicht sah, wußte sie, daß es nicht Nick war. Es war die falsche Stimme. Der Ton war freundlich und fürsorglich, zwei Adjektive, die sie niemals verwendet hätte, um ihren Bruder zu beschreiben.
    Bonnie ging dem dunkelhaarigen Mann entgegen, der die graue Uniform des Hausmeisters der Schule trug. »Haben Sie hier vielleicht einen Mann herumlungern sehen?« Mit einer vagen Geste deutete sie zu den Bäumen. »Groß, dunkelblond, mit einer Sonnenbrille mit Spiegelgläsern«, fuhr sie fort, überzeugt, daß es Spiegelgläser gewesen waren, obwohl sie es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Nick hatte immer Sonnenbrillen mit Spiegelgläsern getragen. So konnte keiner seine Augen sehen. Die Spiegel der Seele, dachte sie. Nur hatte er gar keine Seele.
    Der Hausmeister schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, nein. Ich hab’ niemanden hier gesehen. Aber ich werde auf jeden Fall die Augen offenhalten. Sie können sich darauf verlassen.«
    Bonnie sah sich ein letztes Mal um, dann ging sie widerstrebend zum Schulgebäude zurück. Vielleicht hatte sie sich getäuscht. Vielleicht war es gar nicht Nick gewesen. Was sollte er auch hier draußen zu suchen haben? Nein, es war wahrscheinlich ihre Einbildung gewesen. Ein Schatten, aus dem sie einen Menschen geformt hatte, wie aus einem Stück Ton. Es war niemand dort gewesen. Nur daß andere in ihrer Klasse ihn auch gesehen hatten. »Wer ist der Kerl da draußen?« hatte jemand gefragt. Sie hatte es deutlich gehört.
    »Der ist abgehauen, sobald Sie rausgerannt sind«, rief Haze, als sie wieder ins Klassenzimmer trat.
    »Habt ihr gesehen, wohin er gelaufen ist?« fragte Bonnie.
    »Zum Parkplatz«, antwortete jemand.
    »Wer war es?« fragten mehrere Schüler zugleich.
    Bonnie hob achselzuckend die Hände. »Ich weiß es nicht. Ich dachte, es wäre jemand, den ich kenne. Aber lassen wir das jetzt. Also, zurück zu Seite zweiundsiebzig. Fangen wir mit der Rede an.«
     
    Am Ende der Stunde kam

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