Flieh Wenn Du Kannst
wieder und dachte, daß immer noch Zeit sei umzukehren, daß niemand sie gesehen habe, sie jetzt zum Wagen zurücklaufen und unbemerkt verschwinden könne.
Die Haustür öffnete sich plötzlich. Eine Frau trat heraus und sah Bonnie entgegen, als hätte sie die ganze Zeit auf ihr Kommen gewartet.
»Du lieber Gott!« sagte die Frau. »Du bist es wirklich.«
»Hallo, Adeline«, grüßte Bonnie, überrascht über den kräftigen Klang ihrer Stimme. Sie blieb stehen, ihre Füße waren plötzlich wie angewurzelt.
»Ich dachte mir, daß du es bist, als ich deinen Wagen halten sah. Ich sagte zu Steve: >Ich glaube, wir bekommen Besuch. Ich glaube, es ist Bonnie.‹«
»Und was hat er gesagt?« fragte Bonnie.
Die Frau zuckte mit den Achseln. »Du kennst ja deinen Vater. Er sagt nicht viel.«
Bonnie nickte, unsicher, ob sie stehenbleiben oder weitergehen sollte.
»Nach deinem Anruf hatte ich so eine Ahnung, daß du vorbeikommen würdest«, fuhr Adeline fort. »Ich sagte zu Steve: >Es würde mich gar nicht wundern, wenn Bonnie uns besucht.<«
»Und hier bin ich«, bestätigte Bonnie.
»Ja.«
»Das ist nicht leicht für mich«, sagte Bonnie.
»Es braucht aber auch nicht gar so schwierig zu sein.«
»Ist mein Bruder hier?«
»Im Augenblick nicht.«
Bonnie merkte, wie ihre Schultern sich entspannten, wenn sie auch nicht sicher war, ob aus Enttäuschung oder Erleichterung.
»Warum kommst du nicht herein und sagst deinem Vater guten Tag?« fuhr Adeline fort. »Wenn du schon so weit gefahren bist.«
War das sarkastisch gemeint? Bonnie kämpfte gegen den Impuls, auf der Stelle kehrtzumachen und davonzulaufen. Tatsache war, daß sie diese Frau, die ihr Vater geheiratet hatte, kaum kannte. Sie hatte sie seit der Hochzeit selten gesehen, nur mit ihr gesprochen, wenn es keine andere Möglichkeit gab. Sie hatte diese Frau genauso behandelt, wie Rods Kinder sie behandelten.
»Wir beißen nicht«, fügte Adeline Lonergan hinzu und lächelte.
Bonnie wollte ablehnen, aber ihre Füße schienen sich plötzlich selbständig zu machen und bewegten sich vorwärts, auf das Haus zu. »Ich sehe, ihr habt hier einiges verändert«, sagte sie, als sie sich der Tür näherte.
»War auch allerhöchste Zeit, meinst du nicht?« Adelines blaue Augen unter dem grauen Haar hatten beinahe etwas Verschmitztes.
Bonnie war so sehr damit beschäftigt, das Innere des kleinen Hauses in Augenschein zu nehmen, daß sie zu antworten vergaß. An die Stelle der bedrängenden Blumentapete, die einst alle Wände bedeckt hatte, war leuchtendes Weiß getreten. Weiße Wände überall – im Flur, in der Küche, im Wohn-und Eßzimmer. An den Fenstern statt dunklen Samts duftiger lindgrüner Voile, statt der schweren Mahagonimöbel helles Ahorn.
»Gefällt es dir?« fragte Adeline, führte Bonnie ins Wohnzimmer und bat sie, auf dem blaßgelben Sofa Platz zu nehmen.
»Es ist auf jeden Fall anders«, antwortete Bonnie. Zu mehr war sie nicht bereit. Ihr Herz raste. Ihr war schwindlig, und sie fühlte sich leicht benommen, als wäre sie Dorothy, die soeben in der Wunderwelt des Zauberers von Oz erwacht war.
»Diese dunklen Farben waren so bedrückend«, fügte Adeline hinzu, während sie es sich in einem minzgrünen Sessel bequem machte. »Wie geht es dir?«
Bonnie ließ sich einen Moment Zeit, um sich selbst zu beruhigen. »Ganz gut«, antwortete sie dann.
»Ich hoffe, ihr seid alle gesund.«
»Ja, danke, es geht uns gut.« Bonnie rutschte nervös auf dem Sofa hin und her. Sie sah, daß auf dem Couchtisch neben der neuesten Ausgabe von Vanity Fair eine Bibel lag. »Mein Vater...?« Bonnie sah zum Flur hinaus. In ihrem Kopf drehte sich alles, als wäre ihr Gehirn unfähig, die Veränderungen, die ihre Augen wahrnahmen, zu verarbeiten. Sie fühlte sich völlig kraftlos und griff haltsuchend nach der Armlehne des Sofas.
»Er weiß, daß du hier bist. Er wird gleich kommen, denke ich.«
Bonnie nickte und bedauerte schon ihre Entscheidung, hereingekommen zu sein. »Du siehst gut aus.«
»Ich achte darauf, was ich esse, und bemühe mich, fit zu bleiben. Ich treibe regelmäßig Gymnastik, und dein Vater und ich machen jeden Tag lange Spaziergänge.«
Bonnie stand auf und ging zum Fenster. Während sie hinausblickte, versuchte sie sich vorzustellen, daß draußen ihr Vater mit ihrer Mutter vorüberginge, doch das Bild wollte sich nicht einstellen. Ihr Vater war immer viel zu beschäftigt gewesen, um mit ihrer Mutter spazierenzugehen.
»Was macht das
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