Flieh Wenn Du Kannst
Reisegeschäft?«
»Oh, das haben meine Töchter schon vor mehreren Jahren übernommen. Dein Bruder arbeitet jetzt auch dort.«
Erstaunt drehte sich Bonnie nach der dritten Frau ihres Vaters um. »Wirklich? Und wie geht es?«
»Sehr gut, nach allem, was meine Töchter mir erzählen. Nick hat sich in den letzten anderthalb Jahren sehr verändert.«
»Da kann ich nur hoffen, daß du recht hast.« Bonnie sah auf ihre Uhr. Es war fast halb acht. »Hör zu, ich muß gehen. Würdest du meinem Vater sagen...«
»Was?« fragte ihr Vater von der Tür her.
Bonnie fuhr herum.
»Guten Abend, Bonnie.«
»Guten Abend, Dad«, antwortete Bonnie. Das Wort lag ihr schwer auf der Zunge.
Steve Lonergan verschränkte die Arme vor seiner Brust und straffte seine Schultern, eine Angewohnheit, die Bonnie aus ihrer Jugend kannte und die stets Angst bei ihr ausgelöst hatte. Selbst jetzt spürte sie, wie ihr Herz schneller zu klopfen begann, obwohl der beinahe zarte alte Mann mit dem schütteren weißen Haar und der merkwürdig durchsichtigen Haut, der da vor ihr stand, nichts Angsteinflößendes an sich hatte. Das Alter hatte seinen Körper schrumpfen lassen, aber selbst in seinen besten Jahren war er, das sagte Bonnie ihr gesunder Menschenverstand, niemals so groß gewesen, wie sie ihn in Erinnerung hatte; dennoch war sie überrascht von seiner offensichtlichen Hinfälligkeit. Sein Gesicht trug noch eine dünne Fassade der Härte, aber sie war brüchig geworden, und in den hellen braunen Augen war eine Weichheit, an die Bonnie sich nicht erinnern konnte.
»Was führt dich hier heraus?« Ihr Vater trat ins Zimmer und ließ sich in einem grün und gelb gestreiften Ohrensessel nieder. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, wieder auf dem Sofa Platz zu nehmen.
»Ein Schüler von mir wohnt hier in der Gegend, und ich muß etwas für ihn abgeben«, antwortete Bonnie. Sie fühlte das Nachgeben der weichen Sofapolster unter ihrem Körper.
Ihr Vater lachte leise. »Du warst immer eine schrecklich schlechte Lügnerin.«
Bonnie wurde brennend rot. War sie eine schlechte Lügnerin, weil sie nicht gerne log, oder log sie nicht gern, weil sie sich so schlecht darauf verstand?
»Ein Schüler von mir wohnt hier in der Gegend«, wiederholte sie, »und ich hatte gehofft, Nick anzutreffen«, bekannte sie nach einer kurzen Pause.
»Nick ist nicht hier«, sagte ihr Vater.
»Ich weiß.«
»Adeline hat ihm ausgerichtet, daß du angerufen hast. Hat er sich nicht gemeldet?«
»Doch, doch.«
»Du siehst ein bißchen müde aus«, sagte ihr Vater plötzlich, und Bonnie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. »Hast du so viel zu arbeiten?«
»Na ja, es war eine Menge los.«
»Ja, das hörte ich von der Polizei«, erwiderte ihr Vater. »Jetzt habe ich also drei Enkelkinder, die ich nie gesehen habe.«
Einen Moment lang war Bonnie sprachlos.
»Wie geht es ihr denn, meiner kleinen Enkelin?« fragte ihr Vater.
»Es geht ihr gut«, sagte Bonnie leise, mit unsicherer Stimme. Jemand hat heute einen Eimer voll Blut über ihr ausgeleert, hätte sie beinahe geschrien, aber sie tat es nicht. Am liebsten wäre sie vom Sofa aufgesprungen und aus dem Zimmer gerannt, aus diesem Haus, das für sie nur mit unglücklichen Erinnerungen verbunden war, geflohen vor den bedrückenden dunklen Blumen, die aus dem Weiß der Wände hervorzubrechen drohten, aber sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Es war, als hätten sich Schlingpflanzen um ihre Arme und Beine gewunden und fesselten sie an das Sofa und ihre Vergangenheit.
»Wie alt ist sie jetzt? Drei? Vier?«
»Du weißt genau, wie alt sie ist«, entgegnete Bonnie. Steve Lonergan nickte. »Laß mich überlegen. Sie kam zwei Monate nach dem Tod deiner Mutter zur Welt...«
»Ich will nicht über meine Mutter reden.«
»Wirklich nicht? Ich dachte, deshalb bist du hergekommen.«
»Ich bin hergekommen, weil ich mit Nick sprechen wollte.«
»Nick ist nicht hier.«
Bonnie schwieg. Was für ein dummes Spiel! Warum war sie wirklich hergekommen? Wieder versuchte sie aufzustehen, aber ihr Körper reagierte nicht.
»Hat Nick zu dir jemals etwas über seine Beziehung zu der geschiedenen Frau meines Mannes gesagt?« fragte sie schließlich.
»Er hat für die Zeit ihres Todes ein Alibi, wenn du darauf hinaus willst.«
»Bist du sein Alibi?« fragte Bonnie beinahe verächtlich.
»Es war sein freier Tag«, warf Adeline ein, »und er hat uns hier im Haus einiges geholfen.«
»Ach, ihr seid sein
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