Flieh Wenn Du Kannst
Lauren.
»Ach wirklich?«
»Es ist großartig, wie sie mit ihr umgeht«, erklärte Rod stolz.
»Und Sam ist hier, falls du etwas brauchst.«
»Danke«, sagte Bonnie und überließ sich der Müdigkeit, die sich wie eine schwere Decke auf sie senkte. Amüsiert euch gut, wollte sie ihnen noch nachrufen, aber sie war schon eingeschlafen, ehe die Worte heraus waren.
Sie träumte von Tomaten, haufenweise dicken, roten Tomaten in der Gemüseabteilung eines kleinen Lebensmittelgeschäfts. Sie nahm eine in die Hand, drehte sie hin und her, zerdrückte sie dann zwischen ihren Fingern und sah zu, wie dünne Fäden Tomatensaft über ihren Handrücken und ihren Arm liefen.
Sie hob beide Arme zur Decke, und der Tomatensaft strömte in Kaskaden über ihr Gesicht, drängte sich zwischen ihre Lippen, ergoß sich in ihren Mund. Sie öffnete den Mund weit, um mehr aufzunehmen.
Mit einem Ruck fuhr sie in die Höhe; sie hatte einen widerlich schalen Geschmack im Mund. Da konnte nur ein Glas Wasser helfen. Sie stieg aus dem Bett und schlurfte mit einem Blick auf den Wecker zur Toilette. Es war fast halb elf. Weitere drei Stunden verschlafen, und sie fühlte sich kein bißchen besser.
Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank es langsam in der Hoffnung, daß sie es bei sich behalten würde. Als der widerliche Geschmack nicht verschwand, drückte sie etwas Zahnpasta auf ihre Zahnbürste und putzte sich kräftig die Zähne. Doch der normalerweise kühle Minzegeschmack blieb seltsam wirkungslos. Sie spülte sich den Mund mehrmals aus, und als sie das Wasser ins Becken spie, sah sie, daß es von kleinen Blutsprenkeln durchsetzt war. »Na wunderbar«, sagte sie laut. »Das hat mir gerade noch gefehlt.«
Der obere Flur war dunkel bis auf das kleine Nachtlämpchen vor Amandas Zimmertür. Langsam näherte sich Bonnie dem Zimmer ihrer Tochter. Das bläuliche Licht des Fernsehapparats fiel durch die Ritze unter Sams Zimmertür, gedämpfte Stimmen waren zu hören.
Amanda lag fest schlafend in ihrem Bett. Die Decke war um ihre Knie herum zusammengeknüllt, ihre Arme lagen entspannt rechts und links neben ihrem Kopf, der Kopf selbst war zur linken Schulter hinuntergesunken. Bonnie zog die Decke hoch bis unter Amandas Kinn und küßte sie leicht auf die Stirn. »Ich hab’ dich lieb, meine Süße«, flüsterte sie.
Ich hab’ dich mehr lieb, schien es aus den Wänden zu flüstern, als sie aus dem Zimmer ging.
Einen Moment blieb sie vor Sams Zimmer stehen und starrte auf die geschlossene Tür, als könnte sie durch sie hindurchblikken. Sie hörte die Geräusche aus dem Fernsehapparat – eine Männerstimme, das Aufheulen eines Automotors, das schrille Schreien einer Frau – und wandte sich ab, um in ihr Zimmer zurückzukehren, als sie plötzlich auf ein anderes Geräusch aufmerksam wurde, so leise, daß es ihr beinahe entgangen wäre, so jammervoll, daß sie wie angewurzelt stehenblieb.
Mehrere Minuten lang stand sie so, das Ohr an die Tür gedrückt, und lauschte. Es war, dachte sie, als weinten die Wände, als wäre drinnen jemand gefangen und bettelte um Erlösung. Ohne anzuklopfen öffnete sie die Tür.
Auf dem Fernsehschirm rannte eine spärlich bekleidete junge Frau schreiend vor einem maskierten, mit einem Messer bewaffneten Bösewicht davon. Bonnies Blick glitt vom Fernsehgerät zu ihrem einst so imposanten Eichenschreibtisch, auf dem das Terrarium stand, und weiter zum Sofa, auf dem Sam saß und schluchzend, mit geöffnetem Mund den Bildschirm anstarrte.
»Sam?« Bonnie näherte sich ihm behutsam. »Sam, was ist denn?«
Er wandte ihr sein tränenüberströmtes Gesicht zu, ohne etwas zu sagen. Sie streckte den Arm aus und berührte vorsichtig Sams Schulter. Sie spürte, wie er zusammenzuckte, aber er wich nicht zurück, versuchte nicht, sich ihr zu entziehen. Langsam ließ sie sich neben ihm nieder und legte ihren Arm um seine Schulter.
»Was ist denn, Sam? Bitte, du weißt doch, daß du mit mir reden kannst.«
Das Schluchzen wurde lauter, heftiger. Bonnie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Statt dessen zog sie den Jungen an sich, drückte sein Gesicht an ihre Brust. Seine Tränen durchnäßten ihr Nachthemd.
Plötzlich schlang er die Arme um sie, klammerte sich an sie, als wollte er sie in den Strudel seines Kummers hineinziehen, hielt sie so fest, als ginge es um sein Leben. Und vielleicht ist es ja auch so, dachte Bonnie und wehrte sich nicht gegen seine Umklammerung. Sie strich ihm das lange schwarze
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