Flieh Wenn Du Kannst
Haar aus dem Gesicht, während ihr Blick vom Fernsehschirm, auf dem die junge Frau jetzt niedergestochen wurde, zu der Schlange wanderte, die sich aufrichtete und mit dem Kopf gegen den Deckel des Glasbehälters stieß.
Sam begann noch heftiger zu schluchzen. Sie wiegte ihn in ihren Armen wie ein kleines Kind.
»Es wird alles wieder gut, Sam«, sagte sie leise. »Es wird alles wieder gut.«
Lange Zeit saßen sie so. Der Fernsehfilm ging zu Ende. Soviel Bonnie mitbekommen hatte, waren am Ende alle tot. Die Schlange bewegte sich unruhig in ihrem Glasbehälter, und ihr Kopf stieß immer wieder gegen den Deckel, als wollte sie hinaus.
Schließlich hörte Sam auf zu weinen. »Tut mir leid«, sagte er, ohne sie anzusehen.
»Das braucht dir doch nicht leid zu tun«, erwiderte Bonnie, vorübergehend ihr eigenes Unwohlsein vergessend. »Und es braucht dir auch nicht peinlich zu sein. Dafür gibt es überhaupt keinen Grund.«
»Doch, ich hab’ geheult wie ein kleines Kind.«
»Du mußt nicht immer den harten Burschen spielen, den nichts erschüttern kann, Sam«, sagte Bonnie. »Sprich mit mir. Sag mir, was in dir vorgeht.«
Es blieb lange still. Dann sagte Sam: »Sie hat mich nicht erkannt. Sie hat nicht gewußt, wer ich bin. Lauren hat sie erkannt, aber mich nicht.«
»Ach, Sam, das tut mir so leid«, sagte Bonnie leise. »Vielleicht wenn wir das nächste Mal hinfahren...«
Sam schüttelte den Kopf. »Nein, ich fahr’ da nicht wieder hin.«
»Sie ist eine kranke alte Frau, Sam. Wer weiß, was sich in ihrem verwirrten Geist abspielt.«
»Lauren hat sie erkannt.«
Bonnie sagte nichts.
»Ich möcht’ doch nur, daß mich auch jemand liebhat«, entfuhr es Sam, und es klang wie eine tief empfundene Klage.
»Ach Gott, Schatz.« Bonnie weinte mit ihm. »Es macht mich so traurig, daß du so leidest. Ich wollte, ich könnte etwas tun, damit der Schmerz vergeht. Ich wollte, ich könnte irgend etwas sagen...«
Sam schüttelte heftig den Kopf. »Es ist doch egal.«
»Nein, es ist nicht egal«, widersprach Bonnie. »Du bist wichtig, Sam. Deine Gefühle sind wichtig. Du bist ein Mensch, der es verdient, geliebt zu werden, Sam. Hörst du mich? Du verdienst es, geliebt zu werden.«
Sam sagte nichts, hielt den Blick beharrlich gesenkt.
Ein paar Minuten lang betrachtete Bonnie ihn schweigend. Es war klar, daß ihm sein Ausbruch entsetzlich peinlich war und er nichts mehr sagen würde.
»Ich glaube, ich geh’ jetzt besser wieder zu Bett«, sagte sie.
»Soll ich dir einen Tee machen oder irgendwas?« fragte Sam.
Bonnie lächelte und tätschelte zärtlich seine Wange. »Eine Tasse Tee wäre wunderbar«, sagte sie.
19
Am folgenden Mittwoch ging es Bonnie langsam wieder besser, aber nun klagte Lauren wieder über Übelkeit.
»Bleib heute zu Hause«, sagte Bonnie und legte ihr vorsichtig die Hand auf die Stirn.
Lauren wich nicht zurück. »Habe ich Fieber?« fragte sie.
»Nein, deine Stirn ist kühl, aber besser ist besser. Bleib heute im Bett. Und wenn es dir morgen immer noch nicht besser geht, solltest du zum Arzt gehen.«
»Und du?« fragte Lauren, fröstelnd trotz der warmen Bettdecke.
»Mir geht es wieder gut«, behauptete Bonnie. »Ich bin nur noch ein bißchen müde.«
Die Ereignisse des letzten Monats hatten sie doch sehr mitgenommen: Joans Ermordung; die polizeiliche Untersuchung; die plötzliche Erweiterung ihrer Familie; das überraschende Auftauchen ihres Bruders; ihre Ängste um Amanda und um sich selbst. Augenblicklich dachte Bonnie an Dr. Greenspoon. »Ich habe den Eindruck, daß Sie schwer leiden«, hatte er gesagt. Oder etwas Ähnliches.
Ganz klar, daß er so was sagt, dachte Bonnie sofort. Wie sonst will er weiterhin seine zweihundert Dollar pro Sitzung verdienen, wenn er sich nicht um neue Patienten kümmert.
»Du siehst aber nicht so aus, als ob es dir gutgeht«, sagte Lauren.
»Das liegt nur an meinem Haar«, erklärte Bonnie hastig und warf einen Blick in den Spiegel über dem Toilettentisch. Es stimmte – ihr sonst so fülliges und glänzendes, wenn auch widerspenstiges Haar sah seit einigen Tagen stumpf und leblos aus. Es hing schlaff und strähnig um ihr Gesicht, und auch Bürste und Fön halfen wenig. Vielleicht brauchte sie mal einen neuen Schnitt.
»Kommst du allein zurecht?« fragte sie Lauren. »Oder soll ich mal fragen, ob Mrs. Gerstein kommen kann?«
Lauren schüttelte den Kopf. »Ich brauch’ doch keinen Babysitter, Bonnie.«
»Na schön. Ich ruf’ später mal an, damit ich
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