Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flieh Wenn Du Kannst

Flieh Wenn Du Kannst

Titel: Flieh Wenn Du Kannst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
Vom Netzwerk:
alten Herrn auf sich, der im Schlafanzug durch den Korridor ging.
    »Haben Sie mich gerufen?« fragte er.
    Bonnie schüttelte den Kopf und wünschte sogleich, sie hätte es nicht getan. Die Bewegung löste neuerliches Schwindelgefühl aus. Sie waren wahrscheinlich schon vorausgegangen. Warum auch nicht? Die Frau war schließlich ihre Großmutter, auch wenn sie sich kaum an sie erinnern konnten. Sie brauchten Bonnie gewiß nicht, um sich ihrer eigenen Großmutter vorzustellen. Wahrscheinlich wäre es am besten, sie wartete einfach im Aufenthaltsraum auf die beiden.
    Zu spät, dachte sie, als die Tür zu Elsa Langers Zimmer sich vor ihr öffnete. »Kennen Sie mich noch?« fragte die alte Frau im Rollstuhl und ließ Bonnie gerade so viel Platz, daß sie eintreten konnte.
    »Hallo«, sagte Bonnie zerstreut. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf Elsa Langer gerichtet, die, mehrere Kissen im Rücken, aufrecht im Bett saß und ein Tablett mit ihrem Mittagessen vor sich hatte. Sam saß auf einem Stuhl neben dem Bett, Lauren stand, und beide Kinder starrten wie gebannt das leere Gesicht der alten Frau an.
    »Ich bin Mary«, sagte die Frau im Rollstuhl. »Ich glaube, wir haben uns gar nicht richtig miteinander bekannt gemacht, als Sie das letzte Mal hier waren.«
    »Ich bin Bonnie«, erwiderte Bonnie, ihren Blick unverwandt auf Elsa Langer gerichtet. So aufgerichtet, wirkte die alte Frau noch gebrechlicher. Ihr Körper schien nur noch die skeletthafte Kontur eines menschlichen Wesens zu sein. Ihre Haut verschmolz mit dem Weiß der Laken, ihre Augen waren leer und blicklos, wie dunkle Höhlen.
    »Ihr seid zum Mittagessen gekommen«, sagte Mary. »Ich hab’ meines schon aufgegessen.« Sie wies auf ihr leeres Tablett. »Hühnersuppe, Makkaroni und Käse, und hinterher Vanillepudding. Das hab’ ich bestellt. Ich weiß nicht, was sie für Elsa bestellt haben.«
    Sie rollte sich zu Elsa Langers Bett hinüber und hob den Dekkel von einer der Schüsseln. Darunter kam ein unappetitliches, rötlichbraunes Mischmasch zum Vorschein.
    »Das gleiche«, erklärte Mary. »Aber sie ißt es bestimmt nicht. Sie ißt nie was, wenn ich sie nicht füttere.« Wie ein Dirigent, der zum Taktstock greift, hob sie einen Löffel vom Tablett.
    »Kann ich das machen?« fragte Lauren sofort. »Bitte!« sagte sie zu der Frau im Rollstuhl.
    »Vielleicht«, antwortete Mary. »Wer fragt?«
    »Ich heiße Lauren«, sagte Lauren zu ihr. »Elsa Langer ist meine Großmutter.«
    »Lauren, sagst du?«
    »Ja, und das ist mein Bruder Sam.«
    »Sam?«
    Sam sagte nichts.
    »Ich wußte gar nicht, daß sie Enkelkinder hat«, stellte Mary fest und starrte Bonnie an. »Ist das nicht komisch? Da lebt man jahrelang mit jemandem zusammen und meint, man wüßte alles über ihn, und dann erfährt man plötzlich, daß man ihn überhaupt nicht kennt. Finden Sie das nicht auch komisch?« fragte sie Bonnie.
    Bonnie ignorierte die Frage. »Sie würde sich bestimmt sehr freuen, wenn du sie fütterst«, sagte sie zu Lauren.
    Lauren lächelte, wenn auch nur flüchtig, so flüchtig, daß es kaum zu bemerken war. »Komm, Großmama«, sagte sie leise und sanft und führte einen Löffel Suppe zum Mund ihrer Großmutter. Vorsichtig schob sie ihn der alten Frau zwischen die trockenen Lippen, neigte ihn leicht und zog ihn leer wieder zurück. Etwas Flüssigkeit rann der alten Frau aus den Mundwinkeln, und Lauren wischte sie rasch mit einer Serviette ab.
    »Schmeckt das nicht gut, Großmama?« fragte sie genau wie Bonnie oft Amanda fragte. »Schmeckt das nicht gut?« Sie gab der alten Frau noch einen Löffel Suppe, dann noch einen. »Sie ißt«, rief sie stolz und lächelte wieder, ein wenig länger als das letztemal. »Möchtest du sie auch einmal füttern, Sam?« fragte sie.
    Sam schüttelte den Kopf und verkroch sich noch tiefer in sich selbst, obwohl er den Blick nicht vom Gesicht seiner Großmutter wandte.
    »Sie ißt gern Suppe«, verkündete Mary.
    »Erinnerst du dich an uns, Großmama?« fragte Lauren. Elsa Langer sagte nichts, öffnete nur ein wenig die Lippen, um den Löffel einzulassen.
    »Du hast uns das letzte Mal gesehen, als wir noch ganz klein waren. Weißt du noch? Joan war unsere Mutter«, fuhr Lauren leise fort. Ihre Stimme wurde brüchig, als sie den Namen ihrer Mutter aussprach. »Kannst du dich an sie erinnern?«
    Elsa Langer schlürfte ihre Suppe.
    »Joan ist tot«, sagte Mary.
    »Ich bin Lauren, und das ist mein Bruder Sam«, sprach Lauren weiter, während sich ihr Arm

Weitere Kostenlose Bücher