Fliehe weit und schnell
sie war nach der Arbeit schlicht nicht nach Hause gekommen. Ohne große Hoffnung schickte er zwei Oberleutnants zu ihrem Arbeitgeber und ging zu Fuß in Richtung Brigade. Er lief lange, deutlich länger als eine Stunde, und bog in Richtung Montparnasse ab. Wenn er sich nur erinnern könnte, an welchem Punkt er sich verirrt hatte.
Er ging die Rue de la Gaité hinauf und betrat das Viking. Dann bestellte er ein Sandwich und setzte sich an den Tisch vor dem Fenster, das zum Platz hinausging, den Tisch, den niemand wollte, weil man ziemlich klein sein mußte, um sich nicht an dem falschen Bug des Drachenboots zu stoßen, das darüber an der Wand hing. Kaum hatte er den ersten Bissen seines Sandwichs verzehrt, erhob sich Bertin und schlug auf eine Kupferplatte über der Bar, womit er ein Donnergrollen auslöste. Überrascht sah Adamsberg, wie unter geräuschvollem Flügelschlagen alle Tauben vom Platz aufflogen, während zugleich eine Masse von Gästen hereinströmte, darunter Le Guern, dem er kurz zunickte. Ohne zu fragen, setzte sich der Ausrufer neben ihn.
»Geben Sie sich trüben Gedanken hin, Kommissar?« fragte Joss.
»Ich gebe mich dem Nichts hin, Le Guern, sieht man das so deutlich?«
»Hm, ja. Die Orientierung verloren?«
»Ich könnte es nicht besser ausdrücken«.
»Das ist mir dreimal passiert, und wir haben uns wie Unselige im Nebel gedreht, haben die eine Katastrophe umschifft, nur um an der nächsten gerade so vorbeizuschrammen. Zweimal hat der Ruderapparat ganz von allein gesponnen. Beim drittenmal war ich es, der einen Sextantenfehler beging, am Ende einer durchwachten Nacht. Zu große Müdigkeit, und schon kommt es zum Fehler, zum Schnitzer. Unverzeihlich.«
Adamsberg richtete sich auf, und Joss sah, wie in den Algenaugen des Kommissars dasselbe Licht aufflammte, das er beim erstenmal in dessen Büro hatte leuchten sehen.
»Sagen Sie das noch mal, Le Guern. Sagen Sie das genau so noch einmal.«
»Die Sache mit dem Sextanten?«
»Ja.«
»Na, das ist die Sache mit dem Sextanten. Wenn man sich täuscht, der grobe Schnitzer, der unverzeihliche Fehler...«
Konzentriert, unbeweglich, eine Hand ausgestreckt, wie um den Ausrufer zum Schweigen zu bringen, fixierte Adamsberg einen Punkt auf dem Tisch. Joss wagte nicht mehr zu sprechen. Er beobachtete, wie das Sandwich zwischen den Fingern des Kommissars sich langsam bog.
»Jetzt weiß ich es, Le Guern«, sagte Adamsberg und hob den Kopf. »Ich weiß jetzt, ab wann ich nichts mehr verstanden habe, ab wann ich ihn nicht mehr gesehen habe.«
»Wen?«
»Den Pestbereiter. Ich sehe ihn nicht mehr, ich habe den Kurs verloren. Aber jetzt weiß ich, wann das passiert ist.«
»Ist das wichtig?«
»Genauso wichtig, wie es für Sie wäre, wenn sie Ihren Sextantenfehler rückgängig machen und genau an den Punkt zurückkehren könnten, an dem Sie sich verirrt haben.«
»Ja, dann ist es wichtig«, bestätigte Joss.
»Ich muß gehen«, sagte Adamsberg und ließ einen Geldschein auf dem Tisch liegen.
»Passen Sie auf das Drachenboot auf«, warnte Joss. »Man stößt sich den Schädel.«
»Ich bin klein. Gab es heute morgen eine ›Spezielle‹?«
»Wir hätten Ihnen Bescheid gegeben.«
Und als Adamsberg schon die Tür öffnete, fragte Joss: »Gehen Sie jetzt und suchen Ihren Punkt?«
»Ganz genau, Kapitän.«
»Wissen Sie wirklich, wo er ist?«
Adamsberg tippte mit dem Finger an seine Stirn und ging hinaus.
Es war das Wort ›Schnitzer‹ gewesen. Als Marc Vandoosler von dem Schnitzer gesprochen hatte. In diesem Moment hatte er die Richtung verloren. Im Gehen versuchte Adamsberg, sich Vandooslers Satz in Erinnerung zu rufen. Er ließ die Bilder aufsteigen, die noch nicht alt waren, mitsamt dem Ton. Vandoosler, wie er an der Tür stand, mit seinem glänzenden Gürtel und seiner in der Luft herumfuchtelnden, mit drei Silberringen geschmückten schmalen Hand. Ja, es war die Geschichte mit der Kohle, bei dem Thema waren sie gerade gewesen. Wenn Ihr Mann die Leiche mit Kohle einreibt, täuscht er sich. Er begeht sogar einen gewaltigen Schnitzer.
Erleichtert atmete Adamsberg auf. Er setzte sich auf die erstbeste Bank, schrieb sich die Bemerkung von Marc Vandoosler in sein Notizbuch und aß sein Sandwich auf. Er wußte nicht besser als vorher, wohin die Reise ging, aber zumindest hatte er den Punkt wiedergefunden. Den Punkt, an dem sein Sextant den Kurs verloren hatte. Und er wußte, daß es, wenn er von diesem Punkt ausging, die Chance gab, daß die Nebel
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