Fliehe weit und schnell
man ihm in seinen Raum gelegt hatte. Nach Möglichkeit versuchte er, das Wort ›Büro‹ durch das Wort ›Raum‹ zu ersetzen, das ihm - auch wenn es ihn nicht begeisterte - weniger auf den Schultern lastete. ›Büro‹ klang für ihn nach Bürokrat, Automat, Apparat. In ›Raum‹ hörte er es raunen, hörte Baum, Traum und Schaum. Raum war Bewegung, Büro war starr.
In diesem Raum stapelte er die letzten technischen Ergebnisse, die zu nichts führten. Marianne Bardou war nicht vergewaltigt worden, ihr Arbeitgeber versicherte, daß sie sich im Hinterraum des Ladens umgezogen habe, um auszugehen, daß sie aber nicht gesagt habe, wohin, der Arbeitgeber hatte ein gutes Alibi, ebenso die beiden Geliebten von Marianne. Ihr Tod war gegen zehn Uhr abends durch Strangulation eingetreten, und man hatte ihr Tränengas ins Gesicht gesprüht, genau wie Viard und Clerc. Kein Flohbiß am Körper, ebensowenig wie am Körper von François Clerc. Aber man hatte neun Exemplare von Nosopsyllus fasciatus bei ihr zu Hause gefunden, die allesamt nicht mit dem Bazillus infiziert waren. Die verwendete Holzkohle: Apfelholz. Keine Spur von Salbe, Fett oder einer anderen Substanz auf irgendeiner der Türen.
Es war halb acht, und die dreiundvierzig Telefone der Brigade begannen zu klingeln. Adamsberg hatte seine Leitung auf einen anderen Apparat gelegt und nur noch das Handy behalten. Er zog den Zeitungsstapel zu sich heran, und schon die erste Titelseite verhieß nichts Gutes. Nachdem die Meldung von den neuen Opfern des ›Schwarzen Todes‹ am Vorabend in den Acht-Uhr-Nachrichten gekommen war, hatte er Generalkommissar Brézillon benachrichtigt. Wenn der Pestbereiter auf den Gedanken käme, seine guten ›vorbeugenden wie heilenden‹ Ratschläge an die Presse zu geben, wäre die Polizei kaum noch in der Lage, die möglichen Opfer zu schützen.
»Und die Umschläge?« hatte Brézillon entgegnet. »Haben Sie sich auf diesen Punkt konzentriert?«
»Er kann den Umschlag wechseln. Ganz zu schweigen von Spaßvögeln oder Leuten, die sich rächen wollen und unter unzähligen Türen Umschläge durchschieben.«
»Und die Flöhe?« hatte der Generalkommissar gefragt. »Wenn jede gebissene Person sich in den Schutz der Polizei begibt?«
»Sie beißen nicht in jedem Fall«, hatte Adamsberg erwidert. »Clerc und Bardou sind nicht gebissen worden. Außerdem würden wir riskieren, daß Tausende von durchgedrehten Leuten hier auftauchen, die einfach nur von Menschen-, Katzen- oder Hundeflöhen befallen wurden, während wir die wahren Zielscheiben gar nicht bemerken.«
»Und eine allgemeine Panik«, hatte Brézillon düster hinzugefügt.
»Die Presse bemüht sich schon darum«, hatte Adamsberg bemerkt. »Wir werden das nicht verhindern können.«
»Verhindern Sie es«, hatte Brézillon entschieden.
Als Adamsberg auflegte, war ihm klar, daß seine kürzlich erfolgte Beförderung zur Strafverfolgungsbrigade auf tönernen Füßen stand. Sein Schicksal lag in den fachkundigen Händen des Pestbereiters. Ob er seine Stelle verlor und woanders hingehen mußte, war ihm ziemlich gleichgültig. Aber die Gefahr, den Faden zu verlieren, jetzt, wo er den Punkt wiedergefunden hatte, an dem er sich verwirrt hatte, beunruhigte ihn in höchstem Maße.
Bevor er die Zeitungen vor sich ausbreitete, schloß er die Bürotür, um sich von dem schrillen Klingeln der Telefone im großen Saal abzukapseln, die sämtliche Beamten der Brigade mobilisierten.
Die Kleine Abhandlung des Pestbereiters war großflächig auf den meisten Titelseiten abgebildet, begleitet von Fotos des letzten Opfers und Infokästen, versehen mit Überschriften, die geeignet waren, die Angst zu schüren:
Schwarze Pest oder Massenmörder? Die Rückkehr der Geißel Gottes? Morde oder Seuche? Ein vierter verdächtiger Todesfall in Paris.
Und so weiter.
Einige Artikel, die weniger zurückhaltend waren als am Vortag, begannen bereits die ›offizielle Strangulations-These‹ anzuzweifeln. In fast allen Ausgaben wurden die Beweise, die Adamsberg am Tage zuvor bei der Pressekonferenz vorgetragen hatte, angeführt, um sie sogleich in Zweifel zu ziehen und darüber hinwegzugehen. Die schwarze Farbe der Leichen machte ganz offensichtlich selbst die besonnensten Schreiber nervös und weckte alte Ängste, wie lauter Dornröschen nach einem fast dreihundert Jahre währenden Schlaf. Dieses Schwarz, das doch nichts anderes als ein gewaltiger Schnitzer war. Ein gewaltiger Schnitzer, der die Stadt in
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