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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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gekommen, und vorausgesetzt, es würde kein weiterer Mord geschehen oder keine besonders erschreckende ›Spezielle‹ eingehen, hielt er die Situation für noch kontrollierbar. Er hörte, wie die Menge der Journalisten hinter der Tür anwuchs und die Unterhaltungen lauter wurden.
    Zur gleichen Zeit beendete Joss seinen Seewetterbericht vor einer deutlich größer gewordenen Menge und machte sich an die ›Spezielle‹ des Tages, die am Morgen mit der Post gekommen war. Die Haltung des Kommissars war klar gewesen: Wir lesen weiter vor, wir schneiden nicht die einzige Verbindung durch, die uns mit dem Pestbereiter verknüpft. In die beklemmende Stille hinein brachte Joss die Nummer 20 zu Gehör:
     
    »Kleine geläufige Abhandlung über die Pest. Enthaltend Beschreibung, Symptome und Auswirkungen derselben, mit dafür erforderlicher Heilmethode sowie vorbeugenden wie heilenden Mitteln, Auslassungspunkte. So erkennt, daß er von besagter Pest befallen ist, derjenige, welcher die Beulen an der Leiste aufweist, welche gemeiniglich Bubonen genannt werden, wer an Fieber und Taumel leidet, an Geistesschwäche und allen Arten des Wahns sowie wer Flecken gewahrt, die auf der Haut erscheinen und die man gemeiniglich Trac oder Purpur nennt und welche zumeist von bläulicher Farbe, fahl und schwarz sind und gleichwohl größer werden. Wer sich vor der Gefährdung der Erkrankung zu bewahren wünscht, wird Sorgfalt darauf verwenden, an seiner Türe den Talisman des Kreuzes mit den vier Spitzen anzubringen, welcher ganz gewißlich die Ansteckung seines Hauses abzuwenden weiß.«
     
    Nachdem Joss mühsam die lange Beschreibung beendet hatte, ging Decambrais zum Telefon, um sie Adamsberg ohne weitere Verzögerung zu übermitteln.
    »Wir sind jetzt mittendrin«, faßte Decambrais zusammen. »Der Typ ist fertig mit dem Vorgeplänkel. Er beschreibt das Übel, als ob es sich wirklich in der Stadt befände. Ich denke an einen Text vom Anfang des 17. Jahrhunderts.«
    »Lesen Sie mir bitte das Ende noch mal vor«, bat Adamsberg. »Langsam.«
    »Ist bei Ihnen viel los? Ich höre Lärm.«
    »Etwa sechzig Journalisten, die ungeduldig warten. Und bei Ihnen?«
    »Mehr Leute als gewöhnlich. Fast ein kleines Gedränge, lauter neue Gesichter.«
    »Schreiben Sie mir die alten auf. Versuchen Sie, eine Liste mit dem Stammpublikum zu erstellen, soweit Sie sich erinnern, und zwar so vollständig wie möglich.«
    »Das wechselt je nach Tageszeit.«
    »Tun Sie Ihr Möglichstes. Bitten Sie diejenigen, die immer auf dem Platz sind, Ihnen zu helfen. Den Betreiber des Cafés, den Surfbrett-Händler, seine Schwester, die Sängerin, den Ausrufer, alle, die etwas wissen.«
    »Denken Sie, er ist hier?«
    »Ich glaube, ja. Das war sein Ausgangspunkt, dort wird er auch bleiben. Jeder Mensch hat seinen Bau, Decambrais. Lesen Sie mir dieses Ende noch mal vor.«
    »Wer sich vor der Gefährdung der Erkrankung zu bewahren wünscht, wird Sorgfalt darauf verwenden, an seiner Türe den Talisman des Kreuzes mit den vier Spitzen anzubringen, welcher ganz gewißlich die Ansteckung seines Hauses abzuwenden weiß.«
    »Ein Aufruf an die Bevölkerung, selbst Vieren auf die Türen zu malen. Ein Ablenkungsmanöver.«
    »Genau. Ich sagte ›17. Jahrhundert‹, aber ich habe den Eindruck, daß wir es hier zum erstenmal, und zwar aus einer Notwendigkeit heraus, mit erfundenen Fragmenten zu tun haben. Sie tun so, als ob, aber ich glaube, sie sind falsch. Irgend etwas stimmt am Ende mit dem Stil nicht.«
    »Zum Beispiel?«
    »Das ›Kreuz mit den vier Spitzen‹. Mir ist diese Formulierung noch nie begegnet. Der Verfasser will eine Vier benennen, er will jeden Irrtum ausschließen, aber ich glaube, er hat diese Passage von A bis Z erfunden.«
    »Wenn der Auszug nicht nur an Le Guern, sondern gleichzeitig an die Presse gegangen ist, dann werden wir bald überschwemmt, Decambrais.«
    »Einen Augenblick, Adamsberg, ich höre gerade dem Schiffbruch zu.«
    Zwei Minuten lang herrschte Stille, dann kam Decambrais zurück ans Telefon.
    »Und?« fragte Adamsberg.
    »Alle gerettet«, antwortete Decambrais. »Worauf hatten Sie gesetzt?«
    »Alle gerettet.«
    »Na, wenigstens das ist für heute gewonnen.«
     
    In dem Augenblick, als Joss von seiner Kiste sprang, um bei Damas einen Kaffee zu trinken, betrat Adamsberg den großen Saal und stieg auf das kleine Podest, das Danglard für ihn vorbereitet hatte, den Gerichtsmediziner neben sich, den Projektor bereit. Er wandte sich der

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