Fliehe weit und schnell
Abgründe des Wahnsinns stürzen konnte.
Adamsberg suchte eine Schere und begann einen Artikel auszuschneiden, der ihm mehr Sorgen bereitete als alle anderen. Ein Beamter, wahrscheinlich Justin, klopfte und kam herein.
»Kommissar«, sagte er mit atemlos klingender Stimme, »wir zählen Unmengen von Vieren im Umkreis der Place Edgar-Quinet. Das geht von Montparnasse bis zur Avenue du Maine und erreicht den Boulevard Raspail. Wahrscheinlich sind schon zwei-, dreihundert Gebäude betroffen, ungefähr tausend Türen. Favre und Estalère sind auf Erkundung. Estalère will kein Team mit Favre bilden, er sagt, der ginge ihm auf den Sack, was tun wir?«
»Tauschen Sie, bilden Sie ein Team mit Favre.«
»Er geht mir auf den Sack.«
»Brigadier...«, begann Adamsberg.
»Oberleutnant Voisenet«, verbesserte der Mann.
»Voisenet, wir haben keine Zeit, uns um Favres, Estàlères oder Ihren Sack zu kümmern.«
»Ist mir klar, Kommissar. Das wird vertagt.«
»Ganz richtig.«
»Machen wir mit den Patrouillen weiter?«
»Das ist, als wollten wir das Meer mit einem Löffel ausschöpfen. Die Welle ist längst da. Sehen Sie sich das an«, sagte er und hielt ihm die Zeitungen hin. »Die Ratschläge des Pestbereiters stehen auf allen Titelblättern: Malen Sie Vieren auf Ihre Türen, um sich vor Ansteckung zu schützen.«
»Ich hab's gesehen, Kommissar. Eine Katastrophe. Wir werden da nicht mehr rauskommen. Abgesehen von den neunundzwanzig ersten Häusern werden wir nicht mehr wissen, wen wir schützen sollen.«
»Es sind nur noch fünfundzwanzig, Voisenet. Gibt es Anrufe wegen der Umschläge?«
»Mehr als hundert, allein hier. Wir kommen nicht mehr nach.«
Adamsberg seufzte.
»Sagen Sie den Leuten, sie sollen sie zur Brigade bringen. Und lassen Sie diese verdammten Dinger überprüfen. Vielleicht ist ja ein echter darunter.«
»Machen wir mit den Patrouillen weiter?«
»Ja. Versuchen Sie, das Ausmaß des Phänomens zu erfassen. Machen Sie Stichproben.«
»Zumindest gab's keinen Mord heute nacht, Kommissar. Die fünfundzwanzig waren am Morgen alle wohlauf.«
»Ich weiß, Voisenet.«
Adamsberg schnitt hastig den Artikel zu Ende aus, der sich durch seinen zurückhaltend formulierten und fundierten Inhalt von der Masse abhob. Hier war er, der Funke, der noch fehlte, um das Pulverfaß zum Explodieren zu bringen, das Öl, das in das aufflammende Feuer geschüttet wurde. Der Artikel trug die rätselhafte Überschrift: Die Krankheit Nr. 9.
Die Krankheit Nr. 9
Die Polizeipräfektur hat uns durch Generalkommissar Pierre Brézillon versichern lassen, daß die vier geheimnisvollen Todesfälle, die diese Woche in Paris eingetreten sind, das Werk eines Massenmörders seien. Die Opfer sollen durch Erwürgen zu Tode gekommen sein, und der mit den Ermittlungen beauftragte Hauptkommissar Jean-Baptiste Adamsberg hat höchst überzeugende Fotos von den Strangulierungsmalen an die Presse weitergeleitet. Aber inzwischen weiß jeder, daß ein anonymer Informant die Todesfälle zugleich einer sich ausbreitenden Epidemie der schwarzen Pest zuschreibt, dieser schrecklichen Geißel, die früher die Welt verwüstete.
Angesichts dieser zweiten Erklärung erlauben wir uns, Zweifel an der vorbildlichen Beweisführung unserer Polizeidienste zu äußern, indem wir achtzig Jahre zurückblicken. Paris hat die Geschichte seiner letzten Pest verdrängt. Und doch ist die letzte Epidemie in der Hauptstadt erst 1920 ausgebrochen. Die dritte Pestpandemie war 1894 von China ausgegangen, verwüstete Indien, wo sie zwölf Millionen Tote hinterließ, und traf Westeuropa in all seinen Häfen, Lissabon, London, Porto, Hamburg, Barcelona... und schließlich auch Paris über einen aus Le Havre kommenden Lastkahn, der seine Ladung an den Ufern von Levallois gelöscht hatte. Wie überall in Europa nahm die Seuche glücklicherweise ab und verschwand binnen weniger Jahre ganz. Dennoch befiel sie sechsundneunzig Personen, die zur verelendeten Bevölkerungsgruppe der Lumpensammler gehörten und in baufälligen Behausungen vor allem in der nördlichen und östlichen Banlieue der Stadt wohnten. Die Krankheit drang sogar in die Stadt selbst vor, wo ihr etwa zwanzig Menschen zum Opfer fielen.
Während die Epidemie andauerte, wurde sie von der französischen Regierung geheimgehalten. Man impfte die gefährdete Bevölkerung, ohne daß die Presse über den wirklichen Grund für diese außerordentlichen Maßnahmen informiert worden wäre. Die Seuchenbehörde der
Weitere Kostenlose Bücher