Fliehe weit und schnell
wurde er selbst. Seitdem er den Punkt wiedergefunden hatte, entspannte sich alles in ihm.
Es war Decambrais. Er war der erste, der ihm an diesem Morgen nicht sagte, daß er die Zeitungen gelesen habe und man auf eine Katastrophe zusteuere. Decambrais war noch immer auf seine ›Speziellen‹ fixiert, die er exklusiv und vorab erhielt, bevor sie AFP erreichten. Der Pestbereiter ließ dem Ausrufer ganz offensichtlich einen leichten zeitlichen Vorsprung, wie um ihm sein Privileg zu erhalten, von dem er zu Anfang profitiert hatte, oder um ihm dafür zu danken, daß er ihm ohne Widerrede als Sprungbrett gedient hatte.
»Die ›Spezielle‹ von heute morgen«, sagte Decambrais. »Sehr nachdenkenswert. Sie ist lang, nehmen Sie sich was zu schreiben.«
»Ich bin soweit.«
»Es währte tatsächlich schon siebzig Jahre«, begann Decambrais, »daß sie die Unerbittlichkeit dieser schrecklichen Geißel nicht mehr hinnehmen mußten und wieder gänzlich ungehindert Handel treiben konnten, Auslassungspunkte, als man ein Schiff, Auslassungspunkte, anlegen sah, das beladen war mit Baumwolle und anderer Fracht. Auslassungspunkte. Ich weise auf die Punkte hin, weil sie so im Text stehen, Kommissar.«
»Ich weiß. Machen Sie weiter, aber langsam.«
»Die Freiheit, die man den Passagieren gewährt hatte, mitsamt ihrem Gepäck die Stadt zu betreten, und der Umgang, den sie mit den Einwohnern pflegten, zeitigte jedoch bald unheilvolle Folgen: Denn ab dem, Auslassungspunkte, kamen die Herren, Auslassungspunkte, welche Ärzte waren, zum Rathaus der Stadt, um die Magistratsbeamten darüber in Kenntnis zu setzen, daß sie am Morgen des, Auslassungspunkte, gerufen worden waren, um einem kranken jungen Mann namens Eissalene, Schiffer von Beruf, der ihnen an der Seuche erkrankt schien, einen Krankenbesuch abzustatten.«
»Ist das das Ende?«
»Nein, es kommt noch ein interessanter Epilog über die Geisteshaltung der Regierenden der Stadt, der Ihren Vorgesetzten gefallen dürfte.«
»Ich höre.«
»Ein derartiger Hinweis ließ die Magistratsbeamten erzittern; und so, als hätten sie bereits die Unglücke und Gefahren, die sie erleiden sollten, vorhergesehen, verfielen sie plötzlich in eine Niedergeschlagenheit, die unschwer den übergroßen Schmerz erkennen ließ, der sie ergriffen hatte. Und in der Tat darf man nicht überrascht sein, daß das Nahen der Pest solcherlei Erschrecken in den Köpfen und Herzen bewirkte, da die heiligen Bücher uns lehren, daß von den drei Geißeln, mit denen Gott einst sein Volk bedrohte, jene der Pest die strengste und die unerbittlichste ist...«
»Ich weiß nicht, ob mein Generalkommissar in Niedergeschlagenheit verfallen ist«, kommentierte Adamsberg. »Er neigt eher dazu, die anderen niederzuschlagen.«
»Das kann ich mir vorstellen. Ich habe das so ähnlich schon mal erlebt. Ein Kopf muß rollen. Haben Sie Grund, um Ihre Stelle zu fürchten?«
»Das merke ich schon noch. Was sagt Ihnen die heutige Nachricht?«
»Daß sie lang ist. Sie ist lang, weil sie zwei Ziele verfolgt: die Angst der Bevölkerung zu legitimieren, indem sie die der Regierenden rechtfertigt, sowie weitere Todesfälle anzukündigen. Und zwar präzise anzukündigen. Ich habe da eine vage Idee, Adamsberg, aber ich bin mir nicht sicher, ich muß das überprüfen. Ich bin kein Fachmann.«
»Stehen viele Leute um Le Guern herum?«
»Noch mehr als gestern abend. Wenn das Ausrufen anfängt, wird es eng.«
»Le Guern sollte Eintrittsgeld nehmen. So hätte wenigstens einer was davon.«
»Vorsicht, Kommissar. Ich warne Sie davor, derlei Scherze in Anwesenheit des Bretonen zu machen. Denn die Le Guerns sind vielleicht eine rohe Sippe, aber keine Gauner.«
»Sicher?«
»Jedenfalls behauptet das sein verstorbener Ururgroßvater. Er stattet ihm von Zeit zu Zeit einen Besuch ab. Nicht ständig, aber doch ziemlich regelmäßig.«
»Decambrais, haben Sie heute morgen eine Vier auf Ihre Tür gemalt?«
»Wollen Sie mich beleidigen? Wenn es noch einen gibt, der sich den tödlichen Wellen des Aberglaubens entgegenwirft, dann bin ich das, Ducouèdic, Bretonenehrenwort. Ich und Le Guern. Und Lizbeth. Wenn Sie sich uns anschließen wollen, sind Sie in unserem Trupp herzlich willkommen.«
»Ich werde darüber nachdenken.«
»Wer von Aberglauben redet, redet von Leichtgläubigkeit«, fuhr Decambrais fort, der in Schwung gekommen war. »Wer von Leichtgläubigkeit redet, redet von Manipulation, und wer von Manipulation redet, redet von Unheil.
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