Fliehe weit und schnell
Polizeipräfektur beharrte in einer Reihe interner Schreiben auf der Notwendigkeit, die Krankheit, die sie verschämt ›die Krankheit Nr. 9‹ nannte, der Bevölkerung zu verheimlichen. So liest man 1920 in einem Bericht des Generalsekretärs: »Eine gewisse Zahl von Fällen der Krankheit Nr. 9 wurden aus Saint-Ouen, Clichy, Levallois-Perret und aus dem 19. und 20. Arrondissement gemeldet. (...) Ich möchte Sie auf den streng vertraulichen Charakter dieses Berichts sowie auf die Notwendigkeit hinweisen, die Bevölkerung nicht zu alarmieren.« Eine Indiskretion erlaubte es der Zeitung L'Humanité, in ihrer Ausgabe vom 3. Dezember 1920 die Wahrheit zu enthüllen: »Der Senat hat sich in seiner gestrigen Sitzung mit der Krankheit Nr. 9 beschäftigt. Was ist die Krankheit Nr. 9? Um halb vier erfuhren wir von M. Gaudin de Vilaine, daß es sich dabei um die Pest handelt...«
Ohne die Vertreter der Polizei beschuldigen zu wollen, heute genau wie damals die Tatsachen zu verfälschen, um die Wirklichkeit zu verschleiern, mag dieser kleine historische Rückblick dazu beitragen, die Bürger daran zu erinnern, daß der Staat seine eigene Wahrheit hat, die die Wahrheit nicht kennt, und daß er sich zu allen Zeiten auf die Kunst der Verheimlichung verstanden hat.
Nachdenklich ließ Adamsberg den Arm sinken, den verheerenden Artikel noch in der Hand. Eine Pestepidemie in Paris, im Jahre 1920. Davon hörte er zum erstenmal. Er wählte die Nummer von Vandoosler.
»Ich habe gerade die Zeitungen gelesen«, sagte Vandoosler, noch bevor Adamsberg irgend etwas fragen konnte. »Wir steuern direkt in die Katastrophe.«
»Genau da steuern wir hm«, bestätigte Adamsberg. »Stimmt das mit dieser Pest von 1920, oder ist das dummes Zeug?«
»Das ist absolut richtig. Sechsundneunzig Fälle, davon vierunddreißig mit tödlichem Ausgang. Lumpensammler aus den Randgebieten und ein paar Leute aus der Stadt. Besonders heftig war es in Clichy, da waren ganze Familien betroffen. Die Kinder hatten die Ratten eingesammelt, die auf den Müllhalden verreckt waren.«
»Warum hat sich die Krankheit nicht ausgebreitet?«
»Impfung und Prophylaxe. Vor allem aber schienen die Ratten immun geworden zu sein. Es war die Agonie der letzen Pest in Europa. In Ajaccio trieb sie sich allerdings noch 1945 herum.«
»Stimmt es, daß die Polizei das damals verschwiegen hat? Stimmt diese Geschichte mit der ›Krankheit Nr. 9‹?«
»Sie stimmt, Kommissar, tut mir leid. Sie können das unmöglich dementieren.«
Adamsberg legte auf und ging im Zimmer auf und ab. Die Epidemie von 1920 drehte sich in seinem Kopf, wie ein diskreter kleiner Mechanismus, der eine verborgene Tür freigibt. Jetzt hatte er nicht nur seinen Punkt wiedergefunden, sondern auch den Eindruck, sich durch diese plötzlich geöffnete Tür vorwagen zu können, in Richtung einer düsteren, etwas morschen Treppe - der Geschichte. Sein Handy in der Jacke klingelte, und er hatte einen Brézillon am Apparat, der nach der Lektüre der Morgenzeitungen vor Wut schäumte.
»Was ist denn das für ein Unsinn über die angebliche Heimlichtuerei der Polizei?« brüllte der Generalkommissar. »Was ist das für ein Unsinn über eine Pest im Jahr 1920? Die spanische Grippe war das! Das werden Sie mir ganz fix dementieren!«
»Unmöglich, Herr Generalkommissar. Es stimmt.«
»Wollen Sie sich über mich lustig machen, Adamsberg? Oder wollen Sie wieder auf Ihre Alm zurück?«
»Darum geht es nicht, Herr Generalkommissar. Es war eine Pest, es war im Jahre 1920, es gab sechsundneunzig Fälle, darunter vierunddreißig mit tödlichem Ausgang, und Polizei wie Regierung haben seinerzeit versucht, der Bevölkerung diese Tatsache zu verheimlichen.«
»Versetzen Sie sich mal in deren Lage, Adamsberg!«
»Da bin ich, Herr Generalkommissar.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann legte Brézillon geräuschvoll auf.
Justin oder Voisenet, einer von beiden mußte es sein, öffnete die Bürotür. Voisenet.
»Die Flut steigt, Kommissar. Anrufe von überallher. Die ganze Stadt weiß Bescheid, die Leute haben Schiß, immer mehr Türen tragen eine Vier. Wir wissen nicht mehr, wo uns der Kopf steht.«
»Versuchen Sie nicht mehr, herauszufinden, wo Ihnen der Kopf steht. Lassen Sie sich treiben.«
»Ach so, gut, Kommissar.«
Das Handy klingelte erneut, und Adamsberg nahm seinen Platz an der Wand wieder ein. Der Minister? Der Untersuchungsrichter? Je größer die Anspannung der anderen wurde, desto unbekümmerter
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