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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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krampften sich zusammen, wurden ganz klein und hart. Mir war übel, ich kämpfte um Atemluft. Beruhigte mich, wenn ich aufstehen und umhergehen konnte. Obwohl ich wie ein Löwe im Käfig nur ein paar Meter in jede Richtung ging. Gleichzeitig sehnte ich mich nach Schlaf. Die Erschöpfung steigerte sich minütlich. Doch wenn ich mich hinlegte und die Augen schloss, fand ich keine Ruhe.
    Ich spielte mit dem Gedanken, Nero anzurufen. Oder Ben Berger. Journalisten waren es gewohnt, ihren Schlaf zu opfern, um an Informationen zu kommen. Stattdessen flüchtete ich mich zu Mozart. Anders als Verdi wirkte der immer.

10
    Nero Keller hatte schlecht geschlafen. Das Würzburger Ibis-Hotel war flankiert von mehreren breiten Durchgangsstraßen. Neros Zimmer ging zur Stadtautobahn, an der auch die Züge entlangrasten. Beim Frühstück am Freitagmorgen rieb er sich müde den Bart. Er schickte eine SMS an Kea mit der Bitte, sich zu melden.
    Hauptkommissar Keller war ein überaus korrekter Mensch. Wer ihn nicht mochte, würde ihn als Pedanten bezeichnen. Er liebte Ordnung und war peinlich genau darauf bedacht, seine Arbeitsunterlagen und alles Private sorgfältig sortiert zu haben. In einen Ermittlungsfall um einen versuchten Mord zu geraten, gefiel ihm nicht. Er wusste, wie Kripoleute tickten, schließlich war er selbst einer. Wenn er das Wochenende mit Kea verbrachte, und er wünschte sich im Augenblick nichts mehr als das, würde er in Kontakt mit seinen Kollegen von der Mordkommission kommen. Und die Aussicht, unter Beobachtung eines Externen zu stehen, behagte keinem Kripo-Beamten. Ihm selbst würde es nicht anders gehen.
    Während Nero sein Ei köpfte, entwickelte er eine Strategie. Auf einem Notizzettel machte er sich ein paar Vermerke, dann rief er Martha Gelbach an.

Mai 1973
    Der Tag beginnt ungewöhnlich warm für Mai. Leipzig liegt bereits früh im Jahr unter einer graubraunen Dunstglocke. Vor dem Völkerschlachtdenkmal tummeln sich Besuchergruppen.
    Larissa ist mit der Straßenbahn hergefahren. Das Kleid klebt ihr am Körper. Sie ärgert sich, die Strickjacke mitgenommen zu haben, und mustert genervt die Schuhe an ihren Füßen. Klobige, braune Auswüchse, die an den Zehen reiben. Larissa liebt Schuhe. In ihren Jugendjahren keine schönen Schuhe besessen zu haben, selbst heute kaum ein vernünftiges Paar aufzutreiben, hat eine Kerbe in ihrer Seele hinterlassen. Schuhe bedeuten ihr mehr als nur Schutz und Mode für die Füße. Schuhe geben dem eigenen Standpunkt besser Ausdruck als ein Kleid oder ein Schmuckstück. Sie stehen für Festigkeit und Sicherheit. Außerdem für Freiheit, denn in ihnen kann sie so viele Schritte gehen, wie sie nur will. Sofern sie nicht an irgendeine Grenze stößt. Was in diesem Land vergleichsweise rasch geschieht.
    Larissa tupft sich mit einem Herrentaschentuch den Schweiß vom Gesicht und geht auf das Monument zu, das ihr selbst im hellen Sonnenlicht düster vorkommt. Schon von Weitem sieht sie die kriegerische Gestalt des Erzengels Michael, der über dem Eingang wacht. Sein Spiegelbild schwebt in dem breiten Wasserbecken. Über allem wölbt sich ein schmutziger Himmel.
    Es beginnt dramatisch, denkt Larissa. Ein Engel, Hitze zum Sterben und Smetana.
    Die Notenbücher wiegen nicht schwer, aber der billige Einband wellt sich bereits in ihren schweißnassen Händen. Sie ist zu früh, deshalb lässt sie sich Zeit und schlendert an dem Becken entlang. Eine alte Dame hockt auf dem Rand und kühlt ihre Füße. Larissa lächelt ihr zu und überlegt, ob sie sich solche Freundlichkeiten noch leisten kann. Niemand soll sich an sie erinnern. Nicht hier, nicht am Völkerschlachtdenkmal. Sie will nicht im Gedächtnis auch nur irgendeines Menschen bleiben, der sich heute hier aufhält. Die alte Dame jedoch erwidert ihr Lächeln, schüchtern fast, als fürchte sie, Larissa könne Ärger machen, weil sie ihre geschwollenen Füße in das volkseigene Wasserbecken taucht.
    Erinnert man sich an freundliche Menschen leichter als an schmollende Gesichter?
    Trotz des herrlichen Frühsommertages spürt Larissa die Mutlosigkeit, die über allem liegt. Über dieser schmutzigen Stadt, dem zerstörten Umland, den Industrieanlagen, die man von der Plattform oben auf dem Denkmal sehen kann. Larissa erreicht das Ende des Beckens und legt den Kopf in den Nacken, um an dem imposanten Bau emporzuschauen.
    Ein junger Mann taucht neben ihr auf. Sein Haar ist etwas zu lang für einen ordentlichen Werktätigen. Er trägt es hinter

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