Fliehganzleis
die Ohren gekämmt. Weiches, glattes, blondes Haar. Beim Rasieren hat er sich in die Wange geschnitten. Sein zartes Gesicht, seine schlanke Gestalt kommen Larissa androgyn vor. Er trägt eine silberne Kette mit einem kleinen Kreuz daran. Das ist schon eine Aussage. Eine halbwegs mutige.
»Sie lieben Musik?«, fragt er und zeigt freundlich auf die Noten, die sie vor einem guten halben Jahr in Prag gekauft hat.
»Mehr noch. Ich vergöttere sie«, antwortet Larissa. Sie beobachtet seine Augen sehr genau. Grüne, strahlende Augen. Weibliche Augen. Ist er ein Mann?, fragt sich Larissa. Ist er wirklich ein Mann?
»Seit Monaten suche ich eine gute Klavierlehrerin«, sagt er. »Meine bisherige lässt mich nur Etüden üben. Etüden rauf und runter. Langweiliger geht’s nicht.«
Rede und Gegenrede.
Ihrer beider Blicke halten einander fest.
Egal ob Mann oder Frau, er ist es. Er ist ihr Verbindungsmann. Gerrit hat den Text Hunderte von Malen mit ihr geübt. Larissas Herz beschleunigt. Der Schweiß läuft ihr die Schläfen entlang und tropft auf den Kragen ihres Kleides, ohne dass sie es beachtet. Vor ihr öffnet sich eine Tür, der Ausgang, den sie sucht seit … sie weiß nicht, seit wann. Noch liegt im Dunkeln, was sie dahinter vorfinden wird, aber dieses zarte Zwitterwesen erscheint ihr plötzlich wie ein besonders zauberhafter Schmetterling. Ein Bote aus einer anderen Welt.
»Heutzutage sollte man den Klavierschülern schon ein paar andere Herausforderungen angedeihen lassen«, murmelt sie und spürt einen sachten Schwindel über sich hinweggleiten wie einen Schleier, der sich in der warmen Luft schnell auflöst. »Etüden machen schnell müde.«
Sie setzen sich auf die Stufen, die zum Becken führen. Larissa hat Fotos dabei. Nur so. Zur Tarnung.
»Ich bin Alex«, sagt das Mann-Frau-Wesen.
»Larissa.« Ihr Herz schlägt, schlägt, schlägt. Es findet seinen gewohnten Rhythmus nicht mehr.
Sie besehen sich die Fotos, die Alex nichts sagen, und plaudern darüber wie alte Freunde. Wer sie beobachtet, sieht einen jungen Mann und eine etwas ältere Frau, in ein Gespräch vertieft. Vielleicht Tante und Neffe, die über die letzte Geburtstagsfeier im Familienkreis lästern. Ganz sacht berühren sich ihre Schultern. Das ist schon zu viel. Larissa ist verloren.
Niemand jedoch beobachtet sie. Die Menschen um sie herum sehen nur flüchtig über sie hinweg.
»Es läuft mit einem LKW«, sagt Alex plötzlich und deutet dabei auf ein Foto. »Zustieg an der Autobahn. Nachts, zwischen Berlin und Grenze.«
Larissa greift in ihre Tasche und entnimmt ihr eine Dose mit selbstgebackenen Keksen, von denen sie Alex anbietet. Trotz des wolkenlosen Himmels läuft ein Schauder durch ihren Körper.
Alex greift mit langen, zarten Fingern nach einem Keks. Larissa nimmt sich auch einen. Sie blicken auf das spiegelnde Wasser. Kein Wind kräuselt die Oberfläche. Sie ist ganz still und glatt.
»Was sind Ihre Beweggründe?«, fragt er.
Eine zerrissene Familie kann sie nicht anführen. Ihre Eltern sind tot, ihr Onkel Wolfgang lebt mit Frau und Tochter in Leipzig. Wirtschaftliche Gründe hat sie nicht. Sie lebt gut von ihrem Gehalt, hat eine gute Ausbildung erhalten, ihr Studium hat ihr Freude gemacht.
»Die vielen kleinen Gängelungen. Der Mitmach-Zwang.«
»Das klingt schwach.«
Larissa sieht diesen unglaublichen Mann von der Seite an.
»Ich wurde schon einige Male befragt.« Schaudernd denkt sie an die Gespräche. Immer mit anderen Fluchthelfern. Sie wollten feststellen, ob ihr Fluchtwunsch wirklich echt ist. Oder ob sie ein Spitzel ist.
»Wir fühlen allen unseren … auf den Zahn.«
Allen unseren Flüchtlingen, das will er sagen, aber er schweigt und nimmt noch einen Keks.
Larissa will nicht über das Familiengut in Franken sprechen. Das muss er nicht wissen. Sie will es in Besitz nehmen, die Vergangenheit ihrer Familie aufleben lassen, sich einfühlen in eine Geschichte, die ein Teil ihrer selbst ist. Das sind Gedanken, die hat man erst jenseits der 30. Wie soll sie das dem Mann neben sich erklären, der in aller Unschuld Kekse knabbert? Erwartet er eine ausführliche Analyse aller politischen Zumutungen und Strapazen? Kennt er die nicht selbst? Sie ist nicht politisch. Politik ist ihr egal, sie will ihre persönliche Freiheit, sich selbst entscheiden können, wie sie lebt. Versucht, es dem jungen Mann zu erklären. Führt ihre Gedanken aus. Er hört zu und sieht dabei auf das Wasser, in dem sich der Himmel spiegelt.
»Sind Sie
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