Fliehganzleis
schüttelte den Kopf.
»Schade, wenn ein Leben so zu Ende geht. Finden Sie nicht? Seit ich hier sitze, rennen die Pfleger alle zwei, drei Stunden zu ihr rein. Großer Aufruhr, sie denken, sie stirbt, dann kommen sie raus und alles ist wieder im Lot. Die Dame ist zäh.«
Ich verließ die Station. Vor den Aufzügen wartete Martha Gelbach auf mich.
»Was hat sie gesagt?«
Ich lehnte mich neben dem Lift an die Wand. Plötzlich öffnete sich der Boden zu meinen Füßen. Vielleicht war es Erleichterung, dass ich nicht selbst dort liegen musste, vielleicht auch der Schock, Larissa zwischen Leben und Tod zu wissen. Vielleicht der Geruch nach kaltem Essen und Desinfektionsmittel, der Erinnerungen beschwor.
»Frau Laverde?«, boxte sich die Kommissarin in mein Bewusstsein zurück. »Larissa Rothenstayn ist unsere wichtigste Zeugin. Wenn sie Ihnen etwas gesagt hat, was unsere Ermittlungen betrifft – und in der gegenwärtigen Phase kann das alles sein – , sind Sie verpflichtet, mir das weiterzugeben.«
»Finden Sie Katjas Mörder.«
»Bitte?«
»Mehr hat sie nicht gesagt. ›Finden Sie Katjas Mörder.‹«
»Wer ist Katja?«
»Keinen Schimmer!«
Martha Gelbach betrachtete mich skeptisch.
»Sind Sie sicher, dass keine Katja in den Gesprächen mit Larissa … « Sie schwieg. »Na, ruhen Sie sich erst mal aus. Ich melde mich.«
Sie ließ mich stehen, wo ich war, und trat in den Lift. Das leise ›Ding‹, als die Tür sich schloss, blieb in meinen Ohren kleben. Ich schüttelte meinen Kopf. Um die Geräusche loszuwerden und vor allem die Angst, die mein Inneres in Besitz nahm. Als die Fahrstuhltüren sich erneut öffneten, schnellte ich in die Wirklichkeit zurück. Martha Gelbach hielt die Hand in die Lichtschranke.
»Frau Laverde, bitte bewahren Sie Dritten gegenüber Stillschweigen, was diese Katja betrifft. Egal, wer das ist.«
»Ja, ja«, gab ich zurück, während ich das Treppenhaus ansteuerte.
12
Das Seminar lief gut. Nero entspannte sich merklich. Die Schweinfurter Kollegen hatten einen Medienraum eingerichtet und ausreichend Rechner vernetzt, damit er mit den Kursteilnehmern nicht nur in der Theorie nach schwarzen Löchern im Internet suchen konnte. In der Pause verließ er den Seminarraum und ging mit einigen Leuten vor das Gebäude. Ein paar rauchten. Es war windig. Die Leinen an den Fahnenmasten an der Zufahrt flatterten leise. Nero schaltete sein Handy ein und empfing eine Nachricht von seinem Kollegen Markus Freiflug aus dem LKA in München.
Während Nero die Rückruftaste drückte, entfernte er sich ein Stück von den anderen.
Hauptkommissar Markus Freiflug teilte sich mit Nero ein Büro im LKA , nachdem beide im vergangenen halben Jahr innerhalb des Gebäudes permanent umgezogen waren. Das Team, allesamt Spezialisten für Internetkriminalität, bestand aus fünf Mitarbeitern und wurde seit Monaten immer wieder umgeordnet.
›Viel Wirbel und wenig Wind‹, pflegte Freiflug zu sagen. ›Unsere Chefs überfällt die Arbeitswut. Sie betäuben sich mit Aktivismus, um zu kaschieren, wie wenig wir bewirken.‹ Der junge Kollege mit dem saftigen Münchner Akzent, der mit Pferdeschwanz, Nickelbrille und nachlässiger Kleidung eher wie ein militanter Startbahn-West-Gegner als wie ein Beamter wirkte, hatte sich aufgrund seiner Ernsthaftigkeit und seiner enormen Fähigkeiten in Informatik einen herausragenden Stand in der Ermittlergruppe aufgebaut.
»Nero hier«, antwortete Nero, als Freiflug sich nach dem zweiten Klingeln meldete. »Du hast angerufen? Gibt’s was Wichtiges?«
»Ich bin mir nicht sicher«, kam Freiflug sofort zur Sache. »Wir kriegen hier seit Anfang der Woche ominöse Mails und können sie nicht zuordnen.«
Nero zog eine Schachtel Pueblo aus seiner Jacketttasche. Er klemmte das Handy zwischen Ohr und Kinn fest.
»Will heißen?«
»Ich lese dir vor: ›Verehrte Ordnungshüter und Staatsbeamte in einer parlamentarischen Demokratie! Sorgt endlich für Gerechtigkeit! Wir ertragen nicht länger, dass ehemalige SED -Bonzen in der neuen Parteienlandschaft mitmischen und die Verhältnisse umkehren, indem sie sich der Toleranz und der Rechtsstaatlichkeit bedienen, die sie früher mit Füßen traten. Die Argonauten Herbert Belters.‹«
»Das ist alles?« Fieberhaft überlegte Nero, ob er irgendeine Information mit dem Namen Herbert Belter verband.
»Herbert Belter war Student in Leipzig, hat Flugblätter gegen die Diktatur verteilt und wurde im Oktober 1950 verhaftet und ein halbes Jahr
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