Fliehganzleis
stürzte sich auf ein Brötchen und bestrich es dick mit Leberwurst. Ihre Gesichtszüge erinnerten mich an Larissa, vor allem die leicht schräg stehenden Augen und die schmale Nase. Nur dass Larissas Augen nicht so durchdringend, beinahe grell blau waren. Milenas Gesichtshaut war hell, unterlegt von blassen Sommersprossen, die sich in einer schmalen Linie von einer Schläfe zur anderen zogen. Sie trug ein Herrenhemd, einen luftigen Schal und abgewetzte Jeans. Die Kombination sah aus wie in aller Eile aus dem Schrank gerissen. Und war vermutlich sehr sorgfältig zusammengestellt.
»Wissen Sie«, sagte sie eifrig, »ich habe nachgedacht, warum jemand ausgerechnet im Spätsommer 2008 ins Schloss eindringt und Larissa niederschlägt. Warum jetzt? Kam er mit der Absicht, sie zu töten? Oder ergab sich das, wie sich eben manches von selbst ergibt? Hat dieser Mann seinen Besuch lange geplant? Wer könnte es gewesen sein?« Milena leckte sich Leberwurst von den Fingern und gab sich die Antwort selbst. »Jemand, mit dem sie ein Gespräch führen wollte. Für den sie sich Zeit nahm. Deshalb sagte sie Ihnen, das Interview sei für den Abend beendet. Larissa wollte nicht nur eine halbe Stunde mit ihm plaudern.«
»Klingt plausibel.« Der Angriff auf ihre Cousine schien Milena jedenfalls nicht den Appetit zu verderben.
»Wie viel hat Larissa Ihnen von damals erzählt?«
»Damals?«
»Ihr erstes Leben. In der Diktatur.«
»Sie hat mir die Eckdaten genannt«, antwortete ich. »Ihre Arbeit in der Klinik in Leipzig, ihre Abneigung gegen den SED -Staat.« Mir ging auf, dass ich die Gräfin kaum kannte. Wenige Tage hatten wir geteilt. Ein paar Gespräche. Obwohl ich sie mochte, ihre Gastfreundschaft und Warmherzigkeit genossen hatte, war sie mir fremd geblieben. Ich hatte zu viele Fragen in meinem Notizblock, auf die ich die Antworten noch nicht notiert hatte.
»Hat sie schon über ihre Flucht gesprochen?«
Ich schüttelte den Kopf. Das Spannendste fehlte.
»Ich war noch ein Kind«, murmelte Milena.
Nero saß still da. Er ließ mich fragen, und Milena schien dankbar um ein Ventil, durch das ihre Erinnerungen abziehen konnten. Sie lebte mit der Hoffnung, alles könne ins Lot kommen. Hatte keine Vorstellung von der Schwere der Verletzungen. Ich stellte das Aufnahmegerät an.
»Eines Tags im August oder September 1973 kam Larissa zu uns. Sie hatte einen Topf mit Brombeeren im Arm und klingelte Sturm. Die Beeren waren zerdrückt, manche schon schimmelig. Ich las in der Küche die Beeren aus und verschlang die, die noch essbar waren, während die Erwachsenen im Wohnzimmer redeten.«
Mein Rekorder lief. Milena streifte das schmale, silberne Kästchen mit dem Blick und fuhr fort: »Sie wurden immer lauter. Was sie sagten, weiß ich heute nicht mehr, aber Larissa rief nur immer wieder: ›Ich gehe allein! Ich gehe allein!‹ Heute weiß ich, sie wollte in den Westen. Aber damals verstand ich das nicht.« Milena verzog das Gesicht, während sie sich Kaffee nachgoss. »Ich lauschte an der Tür, und ich hörte, wie meine Mutter auf meinen Vater einredete. Meine Mutter war eine überaus vorsichtige Person. Sie hasste die SED , aber sie wollte weder sich noch die Ihren in Gefahr bringen. Lieber arrangierte sie sich mit zusammengebissenen Zähnen. Ganz anders als Larissa. Später, nach der Wende, erzählte sie, sie habe eine Warnung erhalten. Angeblich von einem alten Freund, der in Verbindung zu einer Fluchthelfergruppe stand. Ein gewisser Gerrit Binder.«
Ich notierte den Namen. »Von dem hat Larissa mir bislang nichts erzählt.«
»Kann schon sein. Gerrit hat später geheiratet, und ich glaube, das hat Larissa nicht so leicht weggesteckt. Sie hatte sich wohl Hoffnungen gemacht, obwohl sie immer so tat, als sei er nur ein Kumpel und als käme eine Beziehung überhaupt nicht infrage. Keine Ahnung, wo er mittlerweile wohnt oder ob er überhaupt noch lebt.«
Überall Krisen. Ich erlebte nicht zum ersten Mal, dass Kunden ein wichtiges Detail verschwiegen, weil damit schmerzhafte Gefühle verbunden waren.
»Und an jenem Abend? Als Sie an der Tür lauschten?«, bohrte ich weiter.
»Da war nicht mehr viel. Ich hörte meine Mutter sagen: ›Wenn sie dich erwischen, ist es aus. Die sperren dich weg. Du kommst 15 Jahre lang nicht raus.‹« Milena nahm einen Schluck Kaffee. »Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich nackte Angst verspürte. Im Spätsommer. Wetter wie jetzt. 1973. Ich war fünf.« Ihr Blick wanderte zu Nero. Rutschte
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