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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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beugt er sich vor und sagt:
    »Komm mit an den Teich.«
    Die Band stimmt ein neues Stück an. Larissa sieht sich rasch um. Irgendeine von Utes Tanten schart Leute um sich, um sie zu einem Rollenspiel zu motivieren. Die Familien des Brautpaares scheinen beschäftigt. Larissa greift nach Alex’ Hand und folgt ihm in den hinteren Teil des Gartens, an ein paar verhutzelten Obstbäumen vorbei. Sie klettern über einen verfallenen Zaun ins Nachbargrundstück.
    Dort lieben sie sich ungestüm im Gras, ohne die Enten zu stören, die sich zum Schlafen auf einen Steg zurückgezogen haben und die Schnäbel zwischen den Federn behalten. Er ist wirklich ein Mann, denkt Larissa, als sie, im Zwielicht schläfrig blinzelnd, Alex’ schmalen und gänzlich unbehaarten Körper betrachtet. Sie sprechen kein Wort. Larissa versteht nicht, was sie zu ihm hinzieht. Und ihn zu ihr. Ihr Körper ist nicht mehr so jung und schlank, die Haut nicht mehr ganz straff. Alex ist gerade mal 20, ein attraktiver Mann und zart wie ein Mädchen.
    Später hilft er ihr, die Teile ihres Kostüms einzusammeln.
    Viele Jahre später, wenn sie an diese Szenerie denkt, kommt ihr in den Sinn, wie freizügig eine verklemmte Gesellschaft sein konnte.
    Zuerst geht Alex zurück zu den anderen. Larissa wartet eine Weile, raucht zwei Zigaretten. Bis ihr Atem wieder ruhig geht.
    Als sie an der Tanzfläche vorbei zum Tisch kommt, wo Wein und harte Getränke bereitstehen, bemerkt sie ein unangenehmes Brennen in ihrem Rücken. Sie gießt sich Wein nach und dreht sich mit dem vollen Glas in der Hand um. Alex’ Vater beobachtet sie. Auf ihr Lächeln reagiert er nicht. Er kommt um den Tisch herum auf sie zu. Packt ihren Arm und sagt nur drei Worte: »Euch kriege ich.«

21
    Neros ehemaliger Kollege, Hauptkommissar Peter Jassmund von der Polizeidirektion in Fürstenfeldbruck, leistete schnelle und unbürokratische Amtshilfe. Ich mochte den gemütlichen Mann mit dem Vollbart und den ausgetretenen Mephistolatschen sowieso gerne, aber er stieg in meiner Achtung noch höher, als mir Nero am späten Samstagnachmittag mit der linken Hand den Zettel mit Gerrit Binders Adresse zusteckte, während seine rechte das Handy an sein Ohr hielt.
    Wer sich wie ich vornehmlich mit den Erlebnissen und Lebensanschauungen anderer beschäftigte, lief Gefahr, von Zeit zu Zeit das eigene Dasein aus den Augen zu verlieren und das Selbst mit dem der Kunden zu verweben. Mitunter spürte ich dann ein Knacken in den Ohren und eine Frage, die wie aus dem Nichts aus mir herausbrach: Wer bin ich und was geschieht hier?
    Als Nero sein Telefonat mit Peter Jassmund beendete und mich mit Augen musterte, deren Braun so tief und satt war wie das von nassem Torf, fragte ich: »Was mache ich hier?«
    »Einkommen erwirtschaften«, entgegnete Nero. »Viele Grüße von Peter.«
    »Danke.«
    »Gerrit Binder wohnt in Heldburg. Das liegt in Thüringen, ganz knapp hinter der bayerischen Grenze. Wenn du hinfährst … vergiss nicht, dass Binder auch für die Kollegin Gelbach einen brauchbaren Zeugen abgeben könnte.«
    »Wäre ich wirklich nicht draufgekommen.«

22
    Nach knapp zwei Stunden Fahrt, während der mein Orientierungssinn mich einige Male im Stich gelassen hatte, überfuhr ich die ehemalige Zonengrenze mit ehrfürchtigem Staunen. Heutzutage war alles einfach. Es gab keine Willkür mehr, die aus einer simplen Straße den Hinterhof der Hölle machte. Keine Kontrollen, keine übersteigerten Machtansprüche, keine den Tod herausfordernden Ideologien. Zumindest nicht mehr hier, zwischen Bayern und Thüringen.
    Gerrit Binder wohnte in dem verschlafenen Ort Heldburg mit Blick auf die kleine Festung, die ihm seinen Namen gab. Er war ein würdiger alter Herr um die 70. Sein Haar stand dünn und schlohweiß um sein schmales Gesicht. Bei einer Körpergröße von beinahe 1,90 hätte er stattlich gewirkt, wenn sein Oberkörper durch die Last der Jahre nicht nach vorne gekippt wäre. Seine außergewöhnliche Magerkeit ließ auf eine Krankheit schließen.
    »Ja, bitte?«
    »Guten Abend. Mein Name ist Kea Laverde. Ich komme von Larissa Rothenstayn.«
    »Von … ?« Binder sah mich aus rot geäderten Augen an. Er wirkte erschöpft und müde.
    »Ich bin Larissas Ghostwriterin. Sie hat mich beauftragt, ihre Autobiografie zu schreiben, und … «
    »Aber bitte, treten Sie doch ein.«
    Ich folgte ihm in ein Wohnzimmer, das aufgeräumt und genauso ausgelaugt aussah wie sein Bewohner. Während wir uns setzten, berichtete ich kurz, wie

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