Fliehganzleis
Warum hatte Larissa ausgerechnet mir gesagt, ich solle Katjas Mörder finden? Warum ihrer Ghostwriterin, nicht der Polizei? Traute sie denen nicht? Oder war sie der Meinung, nur mir die passenden Informationen mitgegeben zu haben, sodass ich Erfolg haben würde?
»Was soll ich tun?«, murmelte ich. Meine Frage richtete sich an die Nacht, die über uns wachte. Mein Herz schlug heftig. Wieder zog die Panik herbei. »Wie soll ich den Mörder dieser Katja finden?«
»Martha Gelbach ist an der Sache dran. Ihre Leute fahnden nach einer Katja im Umkreis der Familie.«
»Das wird schwierig, wenn sie nicht zur Familie gehört. Gehörte. Sie muss ja wohl tot sein, wenn ich ihren Mörder finden soll.«
»Frau Gelbach nimmt natürlich an, und das würde ich an ihrer Stelle auch tun, dass Katjas Mörder auch Larissas Angreifer ist oder mit diesem in Kontakt steht. Es ist eine wichtige Spur. Die einzige im Augenblick.«
»Warum sagte Larissa dann nicht: › XY war es‹, sondern: ›Finden Sie Katjas Mörder‹?«
»In Larissas Zustand sollte man ihre Wortwahl nicht auf die Goldwaage legen.«
Er hatte recht. Und wieder nicht. Wer zwischen Leben und Tod schwebte, konnte seine wenige Energie nicht aufreiben, um elegante Formulierungen zustande zu kriegen. Andererseits wurde ein Mensch im Korridor zum Nirwana bisweilen von Kräften gelenkt, die auch das eigene Sprachvermögen bestimmten. Insofern traute ich Larissa zu, dass sie ihre Worte ganz bewusst gewählt hatte. Aber ich wollte nicht streiten. Ich wollte gar nichts. Ich wollte mit Nero ins Bett. Die Kerzen ausbrennen lassen, den Wein leertrinken. Mich an ihn schmiegen und einschlafen. Später, verstand sich.
19
»Eines möchte ich klarstellen«, sagte Milena Rothenstayn am Samstagmorgen und warf energisch das dicke, in einen akkuraten Pagenschnitt gezwungene blonde Haar zurück. »Wenn meine Cousine nicht überlebt, dann schreiben Sie in meinem Auftrag weiter.«
Wir saßen im Speiseraum und frühstückten. Draußen kroch unerwartet Nebel um das Schloss. Nero hatte in seiner praktischen Art für frische Brötchen und einen Vorrat an Wurst und Käse gesorgt.
»Ich bin die ganze Nacht durchgefahren. Konnte sowieso nicht mehr schlafen. Also bin ich aufgestanden, habe meinen Krempel eingepackt und bin los.«
Milena war durch und durch eine jüngere Ausgabe der Gräfin. Wahrscheinlich in meinem Alter, legte sie dasselbe Temperament aufs Parkett wie ihre Cousine.
»Wow, Larissa hat endlich diesen kitschigen Sessel angeschafft!« Milena wies auf das giftgrüne Monster. Ihre laute und energische Stimme besaß einen metallischen Unterton. »Der stand als Ladenhüter in einem Billigladen herum. Sie hatte zuerst Skrupel, das Teil in ihr stilvolles Schloss zu stellen, aber ich fand, Stilbrüche wären gesund. Da hat sie zugeschlagen.«
Ich sah Milena verblüfft an.
»Was ist?«, fragte sie.
»Das ist ein wunderbares Detail. Der Aufhänger!«
»Bitte?«
»Als Ghostwriterin suche ich nach Einzelheiten, die die Hauptfigur einer Autobiografie menschlich rüberkommen lassen. Der Sessel ist ideal.«
»Wobei es nicht um den Sessel selbst geht, sondern um die Geschichte, die meine Cousine und den Sessel verbindet«, erkannte Milena. Ihre Saphiraugen funkelten.
»Eben!« Aus den Augenwinkeln sah ich Nero lächeln.
Milena goss sich Kaffee ein und schüttete mindestens ebenso viel Milch in die Tasse. Wie von selbst griff ich nach meinem Aufnahmegerät, das, seit ich Larissa gefunden hatte, nutzlos auf dem Tisch herumlag.
»Ich habe Larissas Patientenverfügung«, sagte Milena. »Sie hat sich viele Gedanken gemacht, als alleinstehende Frau ohne Kinder, wie sie ihr Ende gestaltet. Sie möchte nicht künstlich am Leben erhalten werden. Es wäre nicht in Larissas Sinn, als Troll zu überleben.«
Sie wird wahrscheinlich nicht überleben, dachte ich. Wollte es Milena aber nicht sagen. Nicht jetzt. Ich wollte mich nicht wieder meiner eigenen Panik stellen.
In der Nacht hatte ich wunderbar geschlafen. Dank Neros warmem Körper neben meinem war ich zum ersten Mal seit langem wieder aufgehoben gewesen im Leben. Das Dunkel der Nacht hatte keine Gruselmonster gespiegelt. Ich war bereit, aus der neuen Krise zu lernen. Doch die Ruhe war trügerisch, denn schon meldete sich wieder ein zartes Prickeln in meinem Magen. Ich ertränkte es im Kaffee.
Nero erläuterte Milena die bisherigen Schritte in den Ermittlungen.
»Frau Gelbach hat mich schon angerufen.« Milena trank ihren Kaffee,
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