Fliehganzleis
an ihm entlang von der Nase bis zu den Zehen. Stille machte sich breit.
Schließlich sagte ich: »Als Kind denken wir immer, die Eltern kümmern sich schon um alles und halten das Böse auf Abstand.«
»Meine Eltern sind vor fünf Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Obwohl ich schon erwachsen war, bedeutete ihr Tod die größte Zäsur meines Lebens.« Milena sah unschlüssig in ihre Tasse. »Die Familie von Rothenstayn lässt sich bis ins Jahr 1100 zurückverfolgen. Ein Stammbaum wie ein Echolot. Oder wie ein Klumpfuß. Ich bin nun die Letzte meiner Art.«
»Sie haben keine Kinder?«
»Ich habe nie den richtigen Mann gefunden.« Milena sah wieder Nero an und ich tat, als würde ich es nicht bemerken.
20
Nero und ich streiften durch den Schlosspark. Obwohl feiner Nebel durch die Bäume kroch, fühlten wir uns draußen wohler als im Schloss. Wenn die Sonne fehlte, strahlte der alte Bau eine Feindseligkeit aus, der ich mich nicht gewachsen fühlte.
Martha Gelbach hatte angerufen. Larissas Zustand verschlechterte sich. Sie war nicht mehr bei Bewusstsein. Ihre Organe drohten zu versagen. Große Mengen Wasser waren aus ihrem Bauch und ihrer Lunge gesaugt worden. Nachdem mich Nero und Milena abgelenkt hatten, schien nun die Phase gekommen, in der die Erkenntnis voll zuschlug, dass es für die Gräfin keine Hoffnung gab. Ich durfte leben, sie nicht. Krise total.
»Wie kam es, dass Larissa in der DDR aufwuchs?«, fragte Nero. »Ich meine, ein altes fränkisches Adelsgeschlecht … «
»Larissas Eltern erlebten das Kriegsende in Berlin. Ihre Mutter Annelore war eine Adelige aus Pommern. Landadel, Leute mit einem Stammbaum. Wilhelm Graf Rothenstayn war kriegsversehrt. Hatte schon 1939 eine Hand im Feld verloren und kurierte seine Verletzung in einem Lazarett aus, wo Annelore in der Küche aushalf. So lernten die beiden sich kennen.« Ich rekapitulierte Larissas Darstellung. »Graf Rothenstayn war ein überzeugter Nazi gewesen. Im Dezember 1939 heirateten er und Annelore. Larissa kam ein Jahr später zur Welt.«
Wir standen am Bach, nicht weit von der Stelle, wo ich die Gräfin gefunden hatte.
»Die Familie befand sich in Berlin, als das ›Tausendjährige Reich‹ zusammenbrach. Der Graf, der an der rechten Flanke der Ideologien gekämpft hatte, geriet in Kontakt mit dem Sozialismus, bekehrte sich und wurde ein Roter. Und nannte sich fortan nur noch Wilhelm Roth.«
»Manche Menschen brauchen klare Gedankengebäude«, kommentierte Nero.
»Genau.« Ich hockte mich auf die Fersen und hielt die Hand in den Bach. »So kam es, dass Larissa in der späteren DDR groß wurde.«
»Ich kann es nicht machen«, sagte Nero. »Aber es könnte interessant sein, diesen Gerrit Binder aufzutreiben.«
Ich schöpfte Wasser und ließ es zurück in die Bachschnellen tröpfeln.
»Übrigens forscht Kollegin Gelbach mittlerweile nach einem Mordfall ›Katja‹.«
»Da ist was dran.«
»Du bist sicher, nur eine fremde Stimme gehört zu haben?«
Ich nickte.
»Und das war ein Mann?«
Ich zögerte. Nero fiel es sofort auf.
»Ihr macht mich alle ganz kirre!«, schimpfte ich. »Es war ein Mann!«
»Wie klang diese Stimme?«
»Schwer zu sagen. Ich hörte jemanden sprechen, ohne zu verstehen, worum es ging.« Allmählich wiederholte ich mich so oft, dass mir die ganzen Ereignisse wie ein Modekatalog vorkamen, den ich dank tausendfachen Durchblätterns auswendig kannte.
»Wie klang die Stimme? Hell? Dunkel? Laut oder eher leise? Schrill? Drängend? Freundlich? Hektisch?«
Ich richtete mich auf. »Nervös. Nein. Aber auch nicht ruhig. Irgendwas dazwischen. Eher hell als dunkel. Weder besonders laut noch besonders leise. Auch nicht hektisch.« Ich schloss die Augen, um mich zu erinnern, aber das Plätschern des Baches störte. »Wie finde ich diesen Gerrit Binder, Nero?«
Juli 1973
Auch in Zeiten der Mutlosigkeit denken die Leute ans Heiraten. Wahrscheinlich gerade in diesen Zeiten, überlegt Larissa. Sie heiraten und bekommen Kinder, weil es sonst nichts anderes zu tun gibt. Sie leben in Nischen und bestellen, wenn sie Glück haben, irgendwo einen Garten. Auf diese Weise gibt es in einer auf Lebenszeit verplanten Gesellschaft ein paar eigene Pläne und private Absichten.
Larissa Gräfin Rothenstayn, die sich, seit sie denken kann, Larissa Roth nennt, weiß, dass sie keinen Kontakt zu Alex halten darf. Sie hat keine Ahnung, wo er wohnt oder wie er wirklich heißt. Ihr persönliches Leben beschränkt sich auf die Arbeit im
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