Fliehganzleis
lauteten. Diese wurden dann auch ins Melderegister eingetragen. Das bot größtmögliche Sicherheit. Birthe kam ohne Mann. Im März brachte sie ihr Kind in Westberlin zur Welt. Alfons hat seine Leute auf demselben Weg geholt.«
Ich stellte mir vor, wie es wäre, zu fliehen und Nero zurückzulassen, ohne Chance, einander jemals wiederzusehen oder gar zusammenzuleben.
»Ich würde gern mal Ihre Toilette benutzen«, sagte ich.
23
»Und wer ist Katja?«, fragte ich, als ich zurückkam und Binder gegenüber Platz nahm.
»Ich kann mich an keine Katja erinnern.«
»Vielleicht eine ehemalige Kollegin?«
»Das weiß ich einfach nicht.« Binder hustete. »Ich lernte Larissa erst kennen, als ich 1973 als Läufer ein paar Gänge in den Osten machte. ›Läufer‹, so nannten wir damals die Leute, die in den Osten gingen, die falschen Papiere hinbrachten oder die Flüchtlinge trafen und über die Daten ihrer Flucht aufklärten. Ich arbeitete zu der Zeit noch hin und wieder für die Gruppe um Chris Torn. Die wussten, dass sie sich auf mich verlassen konnten. Aber ich reiste mit einem ausländischen Pass ein, denn die DDR hatte mich als Fluchthelfer durchaus im Visier. So war das eben. 1973 erhielten wir sogar Post vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Beziehungen. Man warnte uns, dass wir auf Listen standen, die dem M f S [2] im Zusammenhang mit Fluchthilfe aufgefallen waren oder der DDR aus anderen Gründen nicht passten.« Er lächelte, als er mein erstauntes Gesicht sah. »Ja, eine verrückte Zeit, nicht wahr? Ein Tollhaus, ein Kuckucksnest! Wir versuchten einfach immer, unsichtbar zu bleiben. Vor allem Leute wie Torn, die gegen viel Geld Flüchtlinge ausschleusten.«
Ich notierte mir den Namen.
»Sie sind als Kurier in die DDR gereist, um mit Larissa die Flucht zu besprechen?«
»Ja. Das musste alles vollkommen konspirativ ablaufen. Unter dem Decknamen ›Udo‹ nahm ich Kontakt mit ihr auf. Larissa beeindruckte mich damals sehr. Ich stellte mir vor, ich könnte sie heiraten, sobald sie im Westen wäre, aber das war nur so ein Gedankensplitter. Wunschträume, die vorbeifliegen.«
Er schwieg und sah in die Ferne. Mir war klar, dass diese Begegnung mit Larissa vor mehr als 35 Jahren immer noch einen wunden Punkt in seinem Leben darstellte.
»Könnte es eine Katja im Umkreis der Fluchthelfer gegeben haben?«, fragte ich, um ihn auf sichereren Boden zu lenken.
»Ich denke nicht. Viele Frauen spielten damals nicht mit. Im engsten Kreis nur eine Amerikanerin, Kendra White. Sie kam 1961 mit einer Besuchergruppe aus Harvard an die Freie Universität in Berlin und blieb.«
»Warum?«
»Um Fluchthilfe zu leisten!« Binder goss Tee nach. »Sie stellte Kontakte zu amerikanischen Armeeangehörigen her. Die alliierten Soldaten waren aufgrund des Viermächteabkommens über Berlin von den Kontrollen an den Grenzübergängen befreit. Die ideale Möglichkeit, Flüchtlinge in deren Autos in den Westen zu holen. Die taten das nur gegen Geld. Die Amerikaner haben nichts aus Idealismus gemacht! Im amerikanischen Sektor haben sie sogar unsere Telefone abgehört. Die wussten über alles Bescheid.« Binder trank Tee. »Über alles, was wir machten.«
»Woher wissen Sie das?«
»Wir kannten ja eine Menge Leute«, erzählte Binder. »Und eben auch solche, die für die Amerikaner unsere Telefongespräche ins Englische übersetzen mussten. Das war deren Pech, dass sie keine Fremdsprachen konnten. Da klaffte dann ein schwarzes Loch. Die Übersetzer meldeten sich bei uns, und dadurch waren wir informiert.« Er seufzte. »Es gab eine Fülle spektakulärer Ausschleusungen. Da wurden Tunnel gegraben und Leute durch die Kanalisation geholt. Glauben Sie nicht, dass nur ein Tunnel den Amerikanern nicht bekannt war! Die wussten schon, wo der Tunnel war, bevor er gegraben wurde.«
Es wurde düster im Zimmer. Binder stand auf, nahm eine Schachtel Streichhölzer aus einer Schublade. Es juckte mich, ihm das Streichholz aus den zitternden Fingern zu nehmen. Nach dem dritten Versuch brannte endlich die Kerze auf dem Tisch.
»Die USA sorgten sich darum, dass es in Berlin ruhig zuging. Wir mussten hohe Summen zahlen, damit sie einen Flüchtling in den Chevrolet legten. Im fünfstelligen Bereich.«
»Meine Güte!« Ich schrieb mir den Namen Kendra White auf. »Lebt Kendra noch in Deutschland?«
»Sie hat hier geheiratet. Heißt jetzt White-Höfner. Als ich zuletzt von ihr hörte, wohnte sie in Nürnberg.«
»Wer ist dieser Chris Torn, von dem Sie
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