Fliehganzleis
Larissa und ich zusammengekommen waren und was sich zwischen Mittwoch und Donnerstag auf dem Schloss zugetragen hatte. Ich brauchte nur wenige Sätze.
Im Gesicht des alten Mannes standen Fassungslosigkeit und Schmerz. Und eine Verwirrung, die mich erschreckte. Die Augen alter und schwerkranker Menschen spiegelten bisweilen Momente des inneren Absturzes, in denen nichts zusammenpasste, alles auseinanderfiel. Als habe die kosmische Ordnung für Sekunden ausgesetzt. Binder ging zu einer Stereoanlage am Fenster. Musik setzte ein.
»Georges Bizet, ›Les pêcheurs de perles‹«, sagte ich halblaut.
Als Binder sich umwandte, hatte sich sein Blick geklärt. »Zauberhaft, nicht? Eine Aufnahme mit Giuseppe di Stefano. Von 1944. Man hatte damals, so sonderbar das scheint, doch noch ein Gefühl für Schönheit.« Er setzte sich umständlich in einen Sessel. »Meine Frau starb im vergangenen Herbst. Mag sein, dass ich immer noch auf Larissa warte. Ich weiß, sie lebt nicht allzu weit von hier.«
»Ich möchte an Larissas Berichte anknüpfen«, näherte ich mich dem entscheidenden Punkt. »Als ich sie gestern aufsuchte, sagte sie: ›Finden Sie Katjas Mörder‹ zu mir. Sonst nichts. Wären Sie bereit, mir zu helfen?«
Für Sekunden glitt erneut der Schatten der Verwirrung über sein Gesicht.
»Wenn ich etwas beisteuern kann … Möchten Sie Tee?«
Er erhob sich mühsam und ging in die Küche hinaus.
»Wissen Sie denn, wer Larissa wirklich ist?«, rief er, während er eine Menge Radau mit dem Geschirr machte.
»Wissen Sie es?«
Mit einem Tablett in den Händen kam er zurück. »Ich habe mein Leben damit zugebracht, es herauszufinden. Erfolglos. Larissa mochte mich als Kumpel. Intim war sie mit anderen Männern.« Sacht klirrten Tassen auf Untertassen, als er das Tablett auf den Couchtisch stellte. »Ich weiß nicht, ob ich darüber reden will. Man hat uns ja nie angehört. Am Anfang, ja, da waren wir Helden! Aber später, als sich die beiden Staaten einander annäherten, spätestens mit Willy Brandts Ostpolitik, da sah es anders aus. Wir brachten die mühevoll herbeiverhandelten Erfolge in Gefahr.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht«, begann ich, aber Binder unterbrach sofort.
»Ich fange vom Anfang an. Kann ich Ihnen vertrauen?«
Ich nickte.
»Gut. Ich habe wirklich eine ausgezeichnete Menschenkenntnis.« Er lächelte und zeigte lange, graue Zähne. »Das mussten wir alle haben.«
Ich hatte keinen Schimmer, wovon er sprach.
»1961, nach dem Bau der Mauer, schon am Tag danach, begann unser Engagement.« Er setzte sich umständlich und stopfte sich ein Sofakissen in den Rücken. »Wir waren am Studentenwerk der Freien Universität in Berlin tätig. Mein Freund Alfons Mann und ich. Beide sind wir Jahrgang 1928. Alfons ist schon tot, ja, aber damals, da waren wir junge Kerle mit frischen Ideen. Alfons hatte gerade eine Familie gegründet, war Vater eines einjährigen Jungen. Unsere Generation war mit den Zumutungen des Naziregimes aufgewachsen. Nach dem Zusammenbruch, wir waren ja auch Soldaten im Krieg gewesen, mussten wir erst herausfinden, was Demokratie, Rechtsstaat, Menschenwürde überhaupt sein sollten. Davon hatten wir keinerlei Vorstellung. Wir lebten beide in Ostberlin und unterlagen den neuen Gleichschaltungsprinzipien in der sowjetisch besetzten Zone. Zunächst war ich ganz angetan von den Ideen der Sozialisten. Eine gerechte Welt, all das hat ja eine gewisse Anziehungskraft.« Er legte eine Pause ein und goss Tee in die Tassen. Die Teekanne in seiner Hand zitterte. »Aber irgendwann durchschauten wir, dass es eben nicht um den einzelnen Menschen ging, nicht um individuelles Wohl, sondern nur darum, eine gesellschaftspolitische Idee durchzupeitschen. Mit allen Mitteln. Deswegen floh ich drei Jahre vor dem Mauerbau nach Westberlin. Damals ging das noch mit der S-Bahn, die fuhr durch die geteilte Stadt, vom Ostteil durch den Westteil wieder in den Ostteil. Man wurde natürlich kontrolliert, und wer größeres Gepäck dabeihatte, war verdächtig. Ich reiste mit einer Aktentasche, in der sich meine Zeugnisse befanden und ein paar Fotos. Meine Familie war im Krieg umgekommen, meine Eltern und Großeltern tot. Ich hatte nur noch eine Schwester, Birthe, und die blieb in Ostberlin. Sie war mit anderen Dingen beschäftigt, damals, 1958. Sie hatte sich gerade verliebt, wie es eben so ist, wenn man jung ist. Der Mann ihrer Wahl wollte nicht fliehen.«
Ich trank Tee und wartete.
»Also waren Alfons, der einige
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