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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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vorhin sprachen?«
    »Er übernahm Mitte der 60er. Ein Unternehmertyp, listig, ein Fuchs. Das Gefühl von Solidarität und Gemeinschaft, das Leute wie Alfons und mich zusammengehalten hatte, galt für ihn nicht. Wir hatten ein großes Problem: Wir waren von Spitzeln infiltriert. Es gab viele Verhaftungen an den Grenzen, Kuriere oder Flüchtlinge wurden verraten, und das geschah oft. Wir lebten in ständiger Angst. Die DDR hat gezielt Spitzel in Gruppen wie unsere eingeschleust. Deshalb haben wir kaum Leute mitmachen lassen, die sich anboten. Wir haben diejenigen angesprochen, die wir mitmachen lassen wollten. Alles lief für Gotteslohn, wir verdienten nichts mit der Fluchthilfe, keinen Pfennig.« Binder lächelte traurig. »Torn dagegen arbeitete kommerziell, mit einem festen Mitarbeiterstamm, den er bestens bezahlte, und warb nur für Einzelaktionen neue Leute an. Er scheute auch vor Kriminellen nicht zurück. Kannte die einschlägigen Lokale. Versprach einem LKW -Fahrer aus Holland 1000  DM , wenn er dafür einen Flüchtling ausschleuste. So ging Torn vor. Ich weiß nicht, ob er sich jemals vorstellte, eines Tages Rechenschaft ablegen zu müssen.«
    »Larissa sollte mit einem LKW kommen?«
    »Ja. Die Flucht wurde verraten. Aber es kann kein Spitzel gewesen sein. Chris Torn hat mir später bestätigt, er habe Larissas Flucht akribisch geplant, nur er habe davon gewusst und ich, der Läufer. Und ich habe sie nicht verraten. Ich habe einiges riskiert, als ich nach Leipzig reiste, um sie zu treffen.«
    »Wer war es dann?«
    »Sie hatte damals einen Geliebten. Einen gewissen Alexander. Oder Alex. Seinen Nachnamen kenne ich nicht. Als sie ein Jahr später endlich im Westen war und mich traf, sprachen wir darüber. Aber sie war sich sicher, dass dieser Alex nicht der Verräter war. Denn der schmorte in DDR -Haft. Festgenommen nach ihrer missglückten Flucht im September 1973.«
    »Wenn er im Zuchthaus saß, dann sicher nicht, weil er Larissa verpfiffen hatte«, sagte ich nachdenklich.
    »So ist es.«
    »Milena, Larissas Cousine, meinte, Sie hätten Larissa vor dem ersten Fluchtversuch gewarnt.«
    »Ich? Nein. Woher hat sie das? Ich hätte Larissa nicht warnen können, ich war längst wieder im Westen. Wie sollte ich wissen, was in Leipzig vorging?« Binder sah mich verwundert an.
    Das Türschloss ging.
    »Papa?« Eine Frau wirbelte herein, drahtig, klein, das Haar strubbelkurz, die Stimme durchdringend. In beiden muskulösen Armen schleppte sie voll beladene Einkaufskörbe.
    »Das ist meine Tochter, Sigi«, stellte Binder uns vor. »Sigi, das ist Frau Laverde, sie ist Larissas Biografin – kannst du dich an Larissa erinnern?«
    »Die Gräfin?« Sigi stellte mit einem Seufzer ihre Sachen ab und wühlte in ihrem Haar. Sie mochte in meinem Alter sein und wog höchstens die Hälfte von mir. Enge, schwarze Jeans und eine kurze Lederjacke brachten ihre knabenhafte Figur zur Geltung. Sie füllte die Wohnung mit Tempo und Leben. »Du hast von ihr erzählt.« Sie zwinkerte mir zu. »Mein Vater schwärmt immer noch von ihr, soweit ich weiß. Ich habe ihm gesagt, er sollte den ersten Schritt wagen, aber er traut sich nicht.«
    »Larissa schwebt zwischen Leben und Tod«, sagte Gerrit Binder.
    Ich sah es ihm an: Er begriff in diesem Moment, dass Larissa für ihn verloren war. Seine Tochter legte die Hand auf seine Schulter.
    »Eigentlich wollte ich dir nur die Einkäufe vorbeibringen«, sagte Sigi, nahm einen Schluck aus der Tasse ihres Vaters, wuchtete die Sachen hoch und verschwand in der Küche.
    Binder ging zur Stereoanlage und legte eine neue CD ein. Während Max Bruchs Schottische Fantasie loslegte, sagte er leise: »Ich bin nicht gesund. Meine Nieren sind kaputt. Dreimal die Woche hänge ich an der Dialyse. Sigi hilft, wo sie kann.« Er schwieg eine Weile. Draußen in der Küche rumorte seine Tochter und redete dabei unablässig vor sich hin.
    Das Grave der Schottischen bedrückte mich. Ich wollte raus, Latino hören, Jazz, Hip Hop, nur nicht diese dunkle, melancholische Violine ertragen.
    »Sie müssen sich damit abfinden«, sagte Binder. »Ich kenne keine Katja, ich weiß nicht, wer die Flucht verraten hat. Larissa war viel zu vorsichtig, sie wird niemanden in ihre Absichten eingeweiht haben. Das konnte man sich damals einfach nicht leisten.«
    Immerhin hatte Larissa ihren Onkel und dessen Frau eingeweiht. Selbst das schien Binder für ausgeschlossen zu halten.
    »Und die zweite Flucht?«, fragte ich. Binder war mit seinen

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