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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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›Republikflucht‹ schon in den frühen 50ern in den DDR -Gesetzen auf. Zwischen dem 13. und 23. August 1961 konnten wir Westberliner noch in die DDR reisen, danach nicht mehr. Ausländer aber konnten ohne Passierschein nach Ostberlin einreisen und mussten auch nicht vor 24 Uhr zurück sein. Das ist für später wichtig.« Binder atmete tief durch. »Wir an der FU begannen zu rotieren. Wir wollten etwas tun. Die Welt war über Nacht in Agonie verfallen. Niemand wollte einen dritten Weltkrieg riskieren. Vielleicht hätte der Kollaps der DDR genau dazu geführt, und insofern hat die Mauer den Weltfrieden bewahrt, indem sie den Status quo aufrechterhielt. Wer kann das wissen. Damals waren wir einfach nur wütend über die Brutalität, mit der die Berliner auseinandergerissen wurden. Doch schon ein Jahr später hatte sich die große Resignation eingeschlichen, und schließlich akzeptierten die meisten ihr Schicksal. Aber 1961, da war uns klar, wir müssen was tun. Alfons, mein Freund, habe ich schon von ihm gesprochen? – Ja? – Er wollte seine Leute rausholen, und ich meine Schwester, mit oder ohne den Mann, den sie heiraten wollte. Alfons und ich hatten damals enge Verbindungen zu den Studenten, obwohl wir schon gut zehn Jahre älter waren. Aber wir fühlten uns jung und hatten auch was nachzuholen. Die Studenten waren genauso aufgebracht wie wir. Über Nacht waren ihre Kommilitonen, die in Ostberlin wohnten, warum auch immer sie das taten, vom Studium in Westberlin abgeschnitten. Das waren gut 500 Leute! Wir beschlossen herauszufinden, wie deren persönliche Lage war und ob eine Möglichkeit bestand, sie rauszuholen. Kurz nach dem Mauerbau gab es noch etliche Lücken in der Grenzsicherung. Manche Berliner streiften tagelang auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit an den Sperren entlang. Noch Tee?«
    Er goss mir ein. Ich betrachtete seine zitternde, von Altersflecken übersäte Hand. Beneidete diesen Mann. Er hatte in einer aufregenden Zeit gelebt, in der er etwas Sinnvolles hatte tun können. Ich schrieb nur Biografien auf. Plötzlich kam mir mein Leben windig und armselig vor.
    »Die Ostberliner Studenten hatten ihrem Antrag auf Immatrikulation eine Deckadresse in Westberlin beigegeben. Dahin wandten wir uns. Alfons und ich und noch ein paar Studenten. Wir erreichten meistens die Angehörigen der Ostberliner und baten darum, informiert zu werden, ob diese Fluchtabsichten hätten. Irgendwann hatten wir dann eine Liste mit Namen, besorgten uns die Fotos dieser Personen im Immatrikulationsbüro und machten uns auf die Suche nach Westberliner Doppelgängern, mit deren Papieren wir die Studenten aus dem Osten holen konnten. Das klappte aber nur begrenzt, denn ab Ende August konnten Westberliner ja nicht mehr in den Ostteil der Stadt einreisen. Wir mussten uns was Neues ausdenken. Und so wurden wir eine verschworene Gruppe. Alfons, ich und zwei, drei andere.«
    »Sie waren Fluchthelfer«, sagte ich.
    »So kann man es nennen. Wir steigerten uns so weit in diese Aktivitäten hinein, dass wir für unsere eigentlichen Berufe kaum noch Zeit fanden. Das Studentenwerk ließ uns eine Weile machen. Wir holten auch Verwandte von den Uni-Bürokraten rüber.«
    »Haben Sie Larissa bei der Flucht unterstützt?«
    Binders Gesicht verzog sich zu einer schmerzvollen Grimasse. »Langsam«, stoppte er mich. »Das war lange danach. Zu dieser Zeit war ich nicht mehr aktiv dabei. Wir wären ja verkommen, wir nahmen kein Geld von den Flüchtlingen, trugen alle Kosten selbst. Irgendwann ging das nicht mehr. Je aufwendiger jede einzelne Flucht wurde, und das blieb nicht aus, denn die DDR perfektionierte ihre Grenzsicherung mit der Zeit, desto teurer wurde sie. Also traten andere Leute auf den Plan, die die Fluchthilfe kommerziell betrieben. Das wäre für Alfons und mich nicht infrage gekommen. Alfons und seine Familie lebten in unglaublich kärglichen Verhältnissen! Mir ging es nicht besser. Ich hauste in einem winzigen Zimmer ohne Heizung. Aber es war eine andere Zeit. So kurz nach dem Mauerbau lag Empörung in der Luft. Wir gewannen Selbstvertrauen und Stärke daraus, den Leuten in den Westen zu helfen. Wir waren diesen Weg selbst gegangen, allerdings unter weniger dramatischen Vorzeichen.«
    »Haben Sie Ihre Schwester geholt?«
    »Mit einem belgischen Pass. Zwei Gemeinden in den deutschsprachigen Kantonen Eupen und Malmédy stellten uns nicht nur Blankopässe aus, sondern echte Pässe, die auf die Decknamen der Flüchtlinge

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