Fliehganzleis
Kräften am Ende, aber diese letzte Information musste ich ihm noch abtrotzen. »Ein Jahr später kam Larissa doch in die Bundesrepublik. Wie hat sie das geschafft?«
»Seien Sie doch nicht so naiv.« Nun klang Binders bis dahin freundliche Stimme ungehalten. »Larissa wurde von der Stasi in die Zange genommen. Ich weiß nichts Genaues, aber ein Fluchtwilliger, dessen Tour verraten wurde – der kam damals in Haft!«
Ich hätte mich ohrfeigen können. Über all diese Dinge hatte ich mit Larissa nicht gesprochen. Wäre sie nicht überfallen worden, hätten wir diese Punkte inzwischen vermutlich abgearbeitet. Die entscheidenden Punkte.
»Wie lange war sie im Gefängnis?«
»Ich – weiß – es – nicht«, sagte Binder überdeutlich. Zorn überwältigte ihn, vielleicht auch Selbstvorwürfe, Ängste, das Vakuum, das blieb, wenn Entscheidendes nie geklärt wurde.
Sigi kam aus der Küche, die Hände in den Jackentaschen.
Ich legte meine Karte auf den Couchtisch. »Bitte, rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt«, sagte ich, an beide gewandt. »Bitte. Es ist wichtig.«
August 1973
Wie jeden Urlaub verbringt Larissa auch den diesjährigen zu Hause. Das Hickhack um die Zuweisung eines Ferienplatzes oder gar die Erlaubnis zu einer Auslandsreise widerstrebt ihr. Die Fahrt nach Prag im letzten Jahr ist von der Klinik organisiert worden, andere haben sich mit den bürokratischen Hürden beschäftigt.
Obwohl sie sich damit tröstet, dass ihre Arbeit als Frauenärztin wenigstens Menschen helfen kann, zehrt die tägliche Routine an ihr. Das frühe Aufstehen, die Straßenbahnfahrt zur Klinik, die Spielregeln, auf deren Einhaltung sie peinlich genau achtet, die Versammlungen, das Anstehen an irgendwelchen Geschäften nach Dienstschluss. Insofern bedeutet jede Pause für Larissa ein wertvolles Stück Freiheit. In den Ferien schläft sie lang. Sie leistet sich ein ausgiebiges Frühstück und fährt mit der Straßenbahn oder dem Rad so weit aus der Stadt hinaus wie nur möglich. Am liebsten erkundet sie neue Plätze. Auf ihren Touren achtet sie auf Gärten und Landhäuser. Kaum etwas ist in Privatbesitz, aber in ihrer Fantasie sieht sie sich selber auf ihrem Grund und Boden Obst und Gemüse anbauen. Sie träumt davon, Tiere zu halten. Wenn sie in der Sonne sitzt, die Augen geschlossen hält und einfach nichts tut, stellen sich die Bilder wie von selbst ein – als sähe sie sich einen Kinofilm an.
In diesem Sommer überkommt sie bei ihren Ausflügen zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie Melancholie. Larissa ist bei ihren Freunden und im Krankenhaus als tatkräftige, praktisch veranlagte Frau bekannt. Sie sieht eine Aufgabe und beginnt, sie zu erledigen. Weil sie positiv denkt und sich ihr Leben lang Ziele gesetzt hat, kommt sie kaum dazu, deprimiert zu sein. Obwohl die Lebensumstände, die sie ringsum beobachtet, Anlass zu Frust und Mutlosigkeit bieten. Das schwarzgallige Gefühl, das sich in ihrem Inneren nun ausbreitet, ängstigt sie. Sie sieht all das zum letzten Mal. Sie wird aus diesem Land verschwinden und nichts hinterlassen. Plötzlich versteht sie ›Land‹ nicht nur gleichbedeutend mit ›Staat‹. ›Land‹ steht auch für ›Erde‹. Ein Stück von der Welt, das ihr vertraut ist und sie existieren lässt.
Larissa verbietet sich jeden Gedanken an Alex. Stattdessen wartet sie immer unruhiger auf die Nachricht, die sie bekommen soll. Es kann nicht mehr lange dauern. Der August verstreicht. Die Hundstage sind vorbei, erste herbstliche Gerüche mischen sich mit einem letzten Duft von Sommer, Niedrigoktan-Benzin und dem allgegenwärtigen Braunkohlestaub. Und endlich kommt die Nachricht.
Es ist ein Freitag. Gegen 10 Uhr morgens sitzt Larissa auf ihrem Bett, das Fenster steht weit offen, vor ihr thront ein Tablett mit Kaffee und Obstkuchen. Sie hat in der Nacht lange gelesen und fühlt sich rundum glücklich und erholt. Die nervliche Anspannung der bevorstehenden Flucht, eigentlich nur ein leises Sirren im Kopf, lässt nach. Nächste Woche wird sie zurück sein in der Tretmühle der Werktätigen, aber in ihrem Herzen gibt es diese kleine Kammer, die sie ›Ferienzimmer‹ nennt. Einfach einen Ort der Stille, zu dem sie jederzeit Zuflucht nehmen kann.
Es schellt.
Mit dem Instinkt einer Frau, die sich nie in ihrem Leben ausschließlich auf das Objektive und Wahrnehmbare konzentriert hat, weiß Larissa, dass die heiß ersehnte Nachricht vor ihrer Wohnungstür steht.
Sie geht öffnen.
Ein Mann, ein
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