Fliehganzleis
Tage nach mir kam, und ich auf uns allein gestellt. Wir waren junge Leute, zuversichtlich, fanden eine Anstellung. Alles wunderbar. Ja.« Es schien, als habe Gerrit Binder den Faden verloren. »Wie soll ich Ihnen die Stimmung vom August ’61 verständlich machen? Die ganze Verzweiflung und Fassungslosigkeit, dann wieder die Normalität der Teilung … Das war das Schlimmste, dass das Grässliche normal wurde. Die Teilung Berlins betraf alle Menschen, alle Familien, keine blieb ausgespart und konnte so tun, als habe das alles mit ihr nichts zu tun. Stellen Sie sich vor, zwischen uns beiden verliefe eine Grenze.« Er schlug mit der Handkante auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte.
»Was geschah dann?«, fragte ich und suchte Notizbuch und Bleistift aus meiner Schultertasche.
»Dann wurde die Mauer gebaut. Wir waren entsetzt. Wir dachten, das gibt es nicht. Die FU liegt ja außerhalb, in Dahlem, weit ab vom Schuss. Alfons und ich standen Kopf. Alfons hatte einen Cousin mit Familie drüben im Osten sowie seine alte Mutter. Ich hatte Birthe, die war schwanger von ihrem Verlobten und wollte am 14. August 1961 heiraten. Das war … « Er schwieg eine ganze Weile. »Damals heiratete man erst und bekam dann das Kind, aber sie war erst im zweiten Monat, das hätte schon noch geklappt.« Er lächelte.
»Ja«, sagte ich nur und erwiderte sein Lächeln. An diesem alten Mann war etwas, das mich anzog.
»In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, ja, so lange ist das her, da war die Wiedervereinigung noch eine Naherwartung. Die Politiker im Westen redeten auf die Leute in der DDR ein, sie sollten ›ausharren‹. Wortwörtlich. Und der RIAS [1] strahlte das dann so aus.« Gerrit Binder legte beide Hände auf die Tischplatte und besah seine Finger. »Die DDR wollte eine Wiedervereinigung unter sozialistischen Vorzeichen, und wir wollten das nicht. Wir, die freiheitlich denkenden Menschen. Also hätten wir längst sehen müssen, dass beide Staaten nicht zusammenkommen würden. Ende der 50er war auch ökonomisch schon ein großer Unterschied zwischen West und Ost. Der DDR liefen die Leute ja zu Tausenden weg! Die fehlten in der Produktion. Aus freien Wahlen wäre die SED niemals als Siegerin hervorgegangen, deswegen durfte es keine freien Wahlen geben. Die Herrscherklasse baute einen Verfolgungsapparat auf, um die fehlende Unterstützung des Volkes zu erzwingen. Mit Propaganda, Bespitzelung, politischem Strafrecht, Mitteln des Polizeistaates, Denunziation und schließlich: sowjetischen Panzern im Rücken. Denken Sie an den 17. Juni.« Er sah mich scharf an. »Sie wissen, wofür der 17. Juni steht?«
»Selbstverständlich«, sagte ich zackig. »Volksaufstand in der DDR , 1953. Blutig niedergeschlagen durch sowjetische Truppen.«
Binder lächelte zufrieden. »Sie sind so jung«, sagte er, woraufhin ich glatt rot wurde. »Wir wissen doch gar nicht mehr, womit Ihre Generation sich noch auskennt!«
»Als die Mauer fiel, war ich 21«, protestierte ich.
Das interessierte Binder nicht. »Schon Anfang der 50er wurde das Ministerium für Staatssicherheit errichtet. Eine Institution, die ihresgleichen sucht. In den 80ern haben sich die Spitzel dann gegenseitig bespitzelt. Bizarr, nicht wahr? Die DDR kämpfte also nicht nur gegen den Westen, sondern auch nach innen, gegen die eigene Bevölkerung. 1989 wollten die Leute das nicht mehr hinnehmen. Aber bis dahin war es ja auch noch ein langer Weg. Worauf wollte ich eigentlich hinaus?« Wieder trat für Sekunden dieser verwirrte Ausdruck auf sein Gesicht.
»Der Mauerbau«, half ich weiter.
»Richtig, danke. Das marxistisch-leninistische Menschenbild kennt keine individuellen Grundrechte, sondern nur Klasseninteressen. Deswegen betrachtete die DDR die Abwanderung ihrer Bevölkerung, jede einzelne Flucht als Kampfinstrument des Klassenfeindes. Sie kennen den Jargon noch?«
»Ja.« Ich hatte jahrelang nicht mehr an die DDR gedacht. Als Schülerin war ich mit meiner Mutter oft in der Ostzone gewesen, wie wir zu Hause sagten, bei einer Großtante, einer Schwester meiner Großmutter Laverde. Das lag unendliche Jahre zurück! Wir schrieben das Jahr 2008, man musste mit der Zeit gehen. Doch nun, da ich Gerrit Binder erzählen hörte, schienen mir die Begriffe und Worte nah und scheußlich vertraut.
»Der Mauerbau erhöhte die Zahl der Nervenkranken und Selbstmorde«, redete Binder weiter. Dunkelrote Flecken bildeten sich auf seinen fahlen Wangen. »Dabei tauchte der Begriff
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