Fliehganzleis
leid.«
»Und einen gewissen Alex? Oder Alexander?«
Kendra lachte auf. »Das gibt’s nicht. Sie haben von Alex gehört?«
»Gerrit kannte ihn. Alex soll Larissas Geliebter gewesen sein.«
»Ach, du liebe Zeit!« Kendra legte die Stirn in Falten. »Mir geht ein Licht auf. Nein, ich kenne Alex nicht. Aber vor etlichen Jahren, als ich Gerrit einmal besuchte, seine Frau lebte noch, da sprachen sie über ihn. Leute wie wir kommen von den alten Geschichten nie los. Alex war ein M f S -Opfer, wollte raus aus der DDR . Es war wohl dringend, die Festnahme stand unmittelbar bevor. Aber etwas ging schief. Er wurde geschnappt und blieb 15 Jahre im Zuchthaus. Erst 1989 hat die Bundesrepublik ihn freigekauft.«
»So spät?«
»Was glauben Sie denn! Bis zum Frühsommer ’89 wurden in der DDR noch 130.000 Ausreiseanträge gestellt. Die Leute befestigten Aufkleber mit der Aufschrift ›Gorbi 2000‹ an ihren Wohnungstüren. Der Drang nach Veränderung war nicht mehr auszuhalten.«
Kauend machte ich mir Notizen. »Haben Sie Alex jemals getroffen?«
»Nein. Nein, ich glaube nicht.«
»Sie glauben?«
Kendra zögerte kaum merklich. »Ich habe ihn nicht getroffen. Aber ich weiß, dass er manchmal vom Osten aus etwas für uns unternommen hat. Aber erst 1970 oder 1971 muss das gewesen sein. Er war wohl ein glühender Feind des Regimes, obwohl er damals sehr jung war. Warum, das habe ich nicht herausgefunden.« Kendra ging zu ihrer Kaffeemaschine und betätigte ein paar Knöpfe.
»Wofür haben sie ihm 15 Jahre aufgebrummt?«
»Fluchthelfer und Flüchtlinge wurden oft auch wegen Spionage, Nachrichtensammelns und Verbindung zu staatsfeindlichen Organisationen verurteilt. Da kam einiges zusammen. Die Urteile standen von vornherein fest. Die Anwälte sahen die Angeklagten erst kurz vor der Hauptverhandlung. Eine Verteidigungsstrategie auszuarbeiten, war da völlig unrealistisch. Anwälte konnten allenfalls die Strafe mildern.« Die Kaffeemaschine fauchte. Kendra brachte zwei Gläser Latte Macchiato. »Darf es jetzt ein Stück Schokoladenkuchen sein?«
»Gern.«
»Erst ab 1964 gab es die sogenannten Freikauflisten. Die Rechtsanwälte konnten bewirken, dass Verurteilte darauf vermerkt wurden und die DDR einen Freikauf akzeptierte. Es war bestimmt kein Spaß, Rechtsanwalt in der DDR zu sein. Mit Verlaub. Ein anderer Student aus Harvard, der mit mir nach Berlin gekommen war, hatte sich ebenfalls Gerrit und seinen Kameraden angeschlossen. Martin Dexter. Er arbeitete als Läufer für uns und fiel schon Anfang 1962 in die Hände der Stasi. Monate danach wurde er verurteilt und musste seine 21 Monate voll absitzen. DDR -Bürger bekamen allerdings härtere Strafen als Ausländer. Die DDR ließ die Ausländer auf Druck von außen häufig vorzeitig frei. Der junge Staat suchte damals internationale Anerkennung. Aber Martin hat das nichts geholfen.«
»Wie heißt dieser Alex mit Nachnamen?«
Kendra legte die Stirn in Falten, während sie unsere Teller abräumte und den Kuchen brachte.
»No idea. Oder, warten Sie: Etwas mit Fink. Fink oder Finken oder so ähnlich.«
Ich schrieb mir das auf und probierte von dem Kuchen. Köstlich und kalorienreich. Kendra White konnte nicht allzu viel davon essen, bei ihrer Figur.
»Gerrit müsste seinen vollständigen Namen kennen.«
Mein Stift machte einen Schlenker quer übers Papier. Gerrit hatte mir gegenüber das Gegenteil behauptet. Aber der Mann war alt und Namen nichts als Schall und Rauch.
»Sie sagten, andere hätten die Fluchthilfe übernommen, als Sie und Gerrit ausstiegen.«
»Im Prinzip war das wie eine Unternehmensübergabe. Chris Torn trat auf den Plan. Ein findiger Kerl, der so Mitte der 60er seine Schwester aus der DDR holen wollte und deshalb mit uns in Kontakt kam.« Kendra zog die Stirn zusammen. »Sobald seine Schwester raus war, nahm er Abstand von uns, stieß aber Ende der 60er wieder zu unserer Gruppe. Er nahm viel Geld von den Flüchtlingen, sorgte jedoch für größtmögliche Sicherheit. Er agierte von Bayern aus, saß irgendwo bei Berchtesgaden im Grünen. Das gehörte zur Strategie«, erklärte Kendra. »Im dörflichen Bayern, in den 60er, 70er Jahren, da hätte sich das M f S sehr schwergetan, jemanden auf Torn anzusetzen. Im Dorf kennt jeder jeden. Ein Spitzel von außerhalb kam also nicht infrage, schon allein wegen des Dialekts. Einen Einheimischen für die Stasi zu gewinnen, war sicher auch keine leichte Aufgabe, hätte wertvolle Zeit und Devisen gekostet. Die
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