Fliehganzleis
kürzer noch, im Augenblick des Erwachens. Dann die Ernüchterung. Ich bin hier. Lebendig eingemauert. Ausgeliefert dem Terror, den Spielchen, der Zersetzung.
Sie spult immer wieder ihre Geschichte ab. Die Geschichte, die Udo ihr in der Einkaufstasche gebracht und die sie im Aschenbecher verbrannt hat. Die Geschichte für den Fall einer Verhaftung. Sie wollte zu einer Feier. Sabine Schneider. Geburtstag. Nein, sie haben sich erst vor einem Jahr kennengelernt, Sabine hat bei Larissa in der Klinik entbunden.
Sie überprüfen das.
Es ist korrekt.
Sie hatte tatsächlich Geburtstag.
Das Besondere: Ihr Kind hat auch an diesem Tag Geburtstag.
Mutter und Sohn am selben Tag.
Sie wurde am Freitag 25, das Kind ein Jahr alt.
Sabine liebt gelbe Gerbera.
»Besuchen Sie alle Ihre ehemaligen Mütter?«, fragt Finkenstedt und lacht. Das ist die erste Frage seit Tagen, die Larissa sich merkt. Alle Ihre ehemaligen Mütter.
»Nein. Aber es kommt schon einmal vor.«
Finkenstedt schaut Larissa tief in die Augen. Sie liest alles darin. Dass er um sie und Alex weiß. Hat er sie beobachtet, wie sie miteinander geschlafen haben?
Die Vernehmer fragen nach Details. Larissa versucht, so wenige Einzelheiten wie möglich zu nennen.
Manchmal ist sie so mürbe, dass sie am liebsten fragen würde: ›Was ist mit Alex?‹ Aber sie schafft es, sich diese Frage zu versagen. Sobald sie den Verhörraum betritt, verstaut sie die Frage tief unten in ihrem Bauch, wo sie nicht mehr herauskann. Sie beschließt, nachzuforschen, sobald sie draußen ist. Wann immer das sein wird.
Vom Verhörzimmer aus sieht sie, wie es draußen Herbst wird.
Die Zelle kennt keine Jahreszeit. Dort gibt es kein Fenster. Nur zwei Reihen Glasziegel.
Manchmal kann Larissa nicht atmen. Sie schnappt nach Luft, hyperventiliert. Der Posten, der die Zellen kontrolliert, meldet das. Finkenstedt erwähnt es ein paarmal, wenn er sie verhört. Gibt sich mitleidig und lässt durchblicken, dass es noch ganz andere Unterkünfte gibt.
Nach Tagen, in denen sie Durchfall hatte, bis sie fast dehydrierte, leidet sie jetzt unter Verstopfung. Ihr Körper gibt nichts mehr her.
Der Druck wächst.
Manchmal tönt Musik durch den Hof, aus den Autoradios der Versorgungsfahrzeuge.
Sie verliert die Orientierung. Schaut ihre Hände mit den schmutzigen Nägeln an und fragt sich: Wer bin ich?
Sie schlingert.
Sie ist sich selbst nichts mehr wert.
Wenn sie alles zugibt, endlich diese dumme Geschichte sein lässt, wenn sie nur ausspuckt, was wirklich war – dann bekommt sie ihren Prozess und dann geht wenigstens etwas voran.
Im November wird es empfindlich kalt.
30
Es gab Situationen, in denen ich mir nichts mehr wünschte, als an einem ruhigen Ort in Frieden zu sitzen und zu schreiben. Wenn die Sätze aus mir herausdrängten, war es die reine Qual, mich mit anderen Dingen beschäftigen oder die Gesellschaft von Menschen ertragen zu müssen. Ich legte den Rekorder neben mich auf den Beifahrersitz und diktierte, während ich die Autobahn Richtung München nahm und LKW nach LKW überholte.
Ich mochte Juliane wirklich und freute mich, sie zu sehen. Sie war meine engste Vertraute. Nero spielte in einer anderen Liga, das war klar, aber auf Juliane konnte ich mich immer verlassen. Daher stand es außer Frage, dass ich bei ihr vorbeischauen würde. Auch wenn ich mich am liebsten zurückgezogen hätte, um über das Gespräch mit Kendra nachzudenken. Mir war, als entginge mir ein wichtiger Punkt.
Um kurz nach fünf am frühen Montagabend fuhr ich am Kreuz Neufahrn ab, erreichte Ohlkirchen wegen des dichten Verkehrs aber erst kurz vor sechs. Der kleine Ort war überladen mit Wahlplakaten für die Landtagswahl am 28. September. Man erwartete, dass die CSU einbrechen und weniger als 50 Prozent der Stimmen erhalten würde, was einer Revolution gleichkäme. Mir war das egal. Ich hatte keinerlei politische Interessen. Vielleicht war das ein Fehler. Ich dachte an Kendra und Gerrit. Mit beiden hatte ich nicht über Politik gesprochen. Lag das an meiner Gleichgültigkeit in dieser Hinsicht? Oder hatte Politik für die Fluchthelfer der ersten Stunde einfach nur bedeutet, etwas gegen das Unrecht des Mauerbaus zu tun?
Juliane wohnte in einer kleinen, unscheinbaren Wohnung in der Ortsmitte, kaum 100 Meter entfernt vom Piranha, das einst meine liebste Kneipe in der Umgebung gewesen war. Ich hielt mit zwei Reifen auf dem Gehsteig und klingelte. Dabei kam ich mir wie eine Heldin vor. Juliane war kein ganz
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