Fliehganzleis
vorwerfen, dass sie die Zeit anderer Menschen vergeudete.
Kendra White tat das auch nicht. Sie öffnete mir ihre Wohnungstür, als hätte sie seit Tagen auf mich gewartet, und reichte mir die Hand: »Frau Laverde, nehme ich an? Haben Sie sich gleich zurechtgefunden? Schön, dass Sie da sind.«
Sie war zierlich, mädchenhaft, trug das graue Haar zu einem fransigen Kurzhaarschnitt. Ihre dunkelblauen Augen hatte sie mit viel Kajal umschattet. Ich kam mir dagegen vor wie ein Trampel. In den letzten Tagen war ich aus Chinos und labberigen T-Shirts nicht herausgekommen.
Kendra führte mich in ein großes, helles Zimmer mit Blick auf die Fußgängerzone, wo die Menschen, mit Beuteln und Tüten beladen, in alle Richtungen hasteten. Ein Raumteiler trennte die Küche vom Wohnbereich.
»Setzen Sie sich doch! Jagen Sie Casablanca einfach weg. Sie aalt sich immer so gerne auf dem Sofa!«
Eine schwarze Katze blickte mich ungehalten an, als ich mich vorsichtig neben ihr niederließ. Sie wusste um die Dramaturgie ihres Auftritts. Schwarze Katze auf weißem Sofa!
»Mögen Sie Katzen?«, fragte Kendra und betätigte eine Kaffeemaschine. »Ich habe Schokoladenkuchen da. Ist Ihnen ein Latte Macchiato recht?«
»Super«, sagte ich. »Ich hatte noch kein Mittagessen.«
»Dann fangen wir mit einer Pissaladière an. Ich habe schon alles vorbereitet. Muss nur eine Viertelstunde im Ofen bleiben.«
Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Dass mein Appetit mich nicht im Stich ließ, beruhigte mich, auch wenn das hieß, dass ich niemals so aussehen würde wie Kendra. Sie trug knallenge Jeans, knöchelhohe violette Chucks und eine Tunika aus duftiger Viskose im selben Farbton und allerhöchstens in Größe 38.
»Am Telefon sagten Sie, Sie hätten mit Gerrit gesprochen. Wie geht es ihm?«
»Gesundheitlich nicht so gut«, sagte ich abwartend.
»Seine Nieren sind das Problem«, nickte Kendra, während sie ein Blech mit einer Art Pizza in den Ofen schob. Das Zeug roch schon in ungebackenem Zustand hinreißend nach Knoblauch und Kräutern. »Die Dialyse nimmt ihm alle Kraft. Und dann noch der Tod seiner Frau … «
»Sind Sie in Kontakt miteinander?«, erkundigte ich mich, während Kendra Mineralwasser in zwei Gläser goss, je eine Zitronenscheibe dazugab und zu mir herüberkam.
Ich war durstig. Dieser erste September brachte herbstliches Licht, aber draußen war es wieder wärmer geworden.
»Nein, Gerrit und ich sind kaum noch in Verbindung. Allenfalls zu Geburtstagen.« Kendra drehte ihr Glas und betrachtete die Sonnenstrahlen, die sich im perlenden Wasser brachen. »Ich kam nach Berlin, mit einer Gruppe anderer Studenten aus Harvard. Das war nach dem Mauerbau 1961. Wir waren fasziniert, erschreckt, empört und verängstigt. Über das Studentenwerk lernte ich Gerrit kennen. Wir kamen ins Gespräch und ich bekam mit, was er machte. Sein Mut, seine Leidenschaft haben mich magnetisch angezogen. So kam es, dass ich blieb und mich in der Fluchthilfe engagierte.«
»Sie wollten nicht zurück in die USA ?«
»Ich war gerade 20, als ich nach Deutschland kam, abenteuerdurstig und auf der Suche nach meinen Wurzeln. Mein Großvater war Deutscher. Mich trieb die Neugier, ein Land zu entdecken, das sich politisch in einer derart komplizierten Lage befand, das ich aber dennoch als einen Teil von mir selbst empfand. Sehr bald merkte ich jedoch, dass ich eine völlig Fremde in der deutschen Welt war. Die typische Amerikanerin, der erst einmal die Augen geöffnet werden mussten. Gerrit tat das mit viel Engagement.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufnehme?«, unterbrach ich.
»Überhaupt nicht.« Kendra lächelte. »Wir Fluchthelfer haben immer hinter dem Berg gehalten mit dem, was wir taten. Nur niemandem in die Quere kommen, umsichtig sein, es konnten ja immer gleich Menschen verhaftet werden. So war das damals.«
Ich packte Notizbuch, Bleistifte und meinen Rekorder aus. Casablanca sprang indigniert vom Sofa.
»Sie hat kein Faible für Technik«, kommentierte Kendra. »Tja, weil wir eben immer schwiegen, versuchten, uns unsichtbar zu machen, weiß ich jetzt gar nicht, wo ich anfangen soll, Ihnen zu berichten.«
»Larissa Gräfin Rothenstayn, deren Autobiografie ich schreibe, wollte aus der DDR fliehen, aber die Flucht wurde verraten, und sie kam in Haft.«
»Das war leider keine Seltenheit. Die meisten Fluchten sind an Denunziationen gescheitert. Das M f S hat alle Fluchthelfergruppen systematisch unterwandert. Die
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