Fliehganzleis
ihrem Land geraubt worden war … oder so ähnlich«, erklärte Markus Freiflug. »Hast du nicht ein humanistisches Gymnasium besucht?«
»Vielleicht bezieht der Absender sich auf den Begriff ›Held‹«, mutmaßte Nero. »Ein paar Leute, Opfer eines Unrechts, die losziehen, um Revanche zu üben.«
»Gewagte Interpretation.«
»In den Augen meines Griechischlehrers vermutlich schon«, lachte Nero. »Wie in allen alten Sagen wird es dem Helden richtig schwer gemacht, sein Ziel zu erreichen. Jason, der Anführer der Argonauten, bestand jedoch alle Abenteuer und schnappte sich das Goldene Vlies.«
»Stopp. War da nicht was mit Medea?«
»Sicher. Medea, die Tochter des Kolchis-Königs Aietes, half Jason, die Aufgaben zu erfüllen, die ihr Vater bestimmt hatte. Andernfalls hätte Jason das Vlies nicht gekriegt. Jason musste feuerspeiende Stiere anspannen und mit ihnen ein Feld pflügen und solche Dinge.«
»Das klingt, als wäre das Fantasy-Genre nicht gerade neu«, bemerkte Freiflug.
»Sollen wir der Sache nachgehen?«
»Wir haben reichlich andere Dinge zu tun, aber Woncka will informiert werden. Wie waren deine Seminare?«
»Interessant.« Nero fühlte sich schon wieder klein, gedeckelt, leer. Dieses Gebäude tat ihm nicht gut. Er hatte den Job haben wollen, sich lösen wollen von der Mordkommission in der Kleinstadt, hatte sich beworben, war genommen worden. Kam zurecht. Trotzdem war er nicht glücklich.
»Für mich wäre das nichts«, erklärte Freiflug. »Ich bin lieber für mich. Mein Rechner und ich, das ideale Paar. Vor Leuten sprechen, das kriege ich nicht hin. Willst du Kaffee?«
Nero schüttelte den Kopf.
Freiflug stand auf. »Dann eben nicht«, sagte er und wandte sich zur Tür.
»Warte«, bat Nero. »Der Kaffeeautomat spuckt in zehn Minuten auch noch Brühe aus.«
»Wenn du meinst.« Freiflug ging zurück zu seinem Platz. »Und?«
»Das bleibt unter uns.«
Ein Nicken als Antwort. Freiflug nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit einem Zipfel seines Shirts.
»Eine Adelige und eine Ghostwriterin«, begann Nero und erzählte die ganze Geschichte.
September 1973
Das Erste, was sie tut, als sie aus dem Wagen steigt, der sie in die Dienststelle gefahren hat: Sie lehnt sich gegen die Karosserie und übergibt sich. Der Wurstsalat, denkt sie. Der Wurstsalat war nicht in Ordnung. Sie will daran glauben, obwohl sie weiß, dass es nicht stimmt.
Stunden später. Reinhard Finkenstedt betritt den Verhörraum wie eine Bühne. Ein stattlicher, großer, robuster Mann. Der sich freundlich gibt, nachdem die Aufseherin sie schikaniert hat.
Das will sie sofort vergessen und niemals jemandem erzählen.
Sie hat ihren Ausweis gezeigt. Den haben sie gleich einkassiert.
Sie hat gefragt: »Wohin bringen Sie mich?«
Sie hat gegen das Schweigen angeredet.
Ich hätte damit rechnen müssen, denkt Larissa. Es ist etwas eingetreten, womit ich hätte rechnen müssen. Ich habe kein Recht, mich zu beschweren. Ich war dabei, eines der schlimmsten Verbrechen in diesem Staat zu begehen.
Vielleicht habe ich es geahnt. Dass es schiefgeht.
Reinhard Finkenstedt lässt sich hinter dem protzigen Schreibtisch nieder. Es muss späte Nacht sein. Sie haben sie lange warten lassen.
Finkenstedt beginnt zu sprechen. Larissa sieht, wie sein Mund sich bewegt.
Ich kann nichts sagen. Was haben sie mit Alex gemacht?
Ich kenne keine Namen. Udo. So heißt der nicht. Der Ein-Meter-Neunzig-Mann ist längst wieder im Westen. Wo ich sein sollte. Wo ich jetzt auch schon wäre. Wo meine Familie über Hunderte von Jahren gelebt hat. Wo ich nie sein durfte. Verdammt, verdammt, verdammt!
Durchatmen.
Nicht in die Enge treiben lassen.
Einfach nicht reagieren.
Warum wollte ich weg? Ich habe doch alles. Hatte. Eine Wohnung, eine Arbeit, Freunde, Kollegen. Alles weg.
Das hier ist kein Irrtum, denkt Larissa, während Finkenstedt weiterredet, sich über den Schreibtisch beugt, sie nicht aus seinem stählernen Blick entlässt. An der Wand hängen Porträts, irgendwelche Revolutionäre, deren Gesichter vor Larissas Augen verschwimmen.
Finkenstedt, auf Utes Hochzeit. Hat er da ›Euch kriege ich!‹ gesagt?
Noch einer kommt in den Raum. Einer mit dunkler Brille, der hinter Larissas Stuhl stehen bleibt.
»Meinen Sohn haben wir«, sagt Finkenstedt mit kaltem Glanz in den Augen. »Der wird auspacken, da, wo wir ihn hingebracht haben. Verlassen Sie sich drauf.«
Viele Tage und Nächte. Ängste und ungläubiges Erstaunen, für Sekunden,
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